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Jedes weitere Fresko erzählte mehr von der Geschichte: das Treffen des Entdeckers Merithyn und der Drachin Elynsynos, die einst unangefochten über einen großen Teil des mittleren Kontinents einschließlich Navarne geherrscht hatte; die Einladung an das Volk von Serendair, in ihrem Land Schutz zu suchen; die Erbauung und das Ablegen der drei Schiffsflotten, welche die cymrischen Flüchtlinge von der Insel forttrugen; das Schicksal jeder der drei Flotten; die Vereinigung des cymrischen Königshauses durch die Heirat des Herrschers Gwylliam mit Anwyn, einer der drei Töchter der Drachin Elynsynos; die Errichtung eines gewaltigen Reiches, über das der erste Herr und die erste Herrin der Cymrer geherrscht hatten, und schließlich seine Vernichtung im cymrischen Krieg.

Gwydion hatte Ashe einmal vorgeschlagen, in dem freien blauen Feld in der Mitte ein Bild des neuen Zeitalters entstehen zu lassen, in das sie vor kurzem eingetreten waren und das als das Zweite cymrische Zeitalter bekannt war. Es begann mit der Thronbesteigung seines Paten zusammen mit Rhapsody, die drei Jahre zuvor vom cymrischen Konzil als Herrscherin eingesetzt worden war. Ashe hatte nur gelächelt; das Feld war leer geblieben.

In der Großen Halle waren viele Stühle aufgestellt worden. Auf ihnen saßen die Herzöge der fünf anderen Provinzen von Roland und Abgesandte von jedem anderen Mitgliedsstaat des cymrischen Bündnisses, eines lockeren Zusammenschlusses von Ländern, die dem Herrscher und der Herrscherin der Cymrer treu ergeben waren. Rial, der Vizekönig des Waldreiches Tyrian, dessen Titularkönigin Rhapsody war, nickte ihm freundlich zu, doch in seinem Blick lag unverkennbar Mitgefühl. Gwydion bekam eine Gänsehaut.

Bevor sie unter dem zweiten Joch herschritten, wandte sich Ashe zu ihm um und ergriff seinen Arm.

»Komm für einen Augenblick her«, sagte er und zog ihn in ein Seitengemach.

Gwydion folgte ihm blind. Sein Magen hatte sich vor Sorgen zusammengekrampft. Ashe schloss die Tür hinter ihnen. Die Echos aus der gewaltigen Halle wurden sogleich von dem Teppich, den Vorhängen und Gobelins des kleineren Raumes verschluckt.

In dem Zimmer stand neben dem Fenster die Herrin der Cymrer und beobachtete die Blätter draußen, die allmählich ihre üppig grüne Färbung verloren und die Farbe des Feuers annahmen. Auch sie steckte in einer schweren, samtenen Hofrobe, einem tiefblauen Kleid, das steif von ihrer schlanken Gestalt abstand und ihren gewölbten Bauch verdeckte. Ihr goldenes Haar war aus dem Gesicht gekämmt und in komplizierten Mustern nach Art der Lirin gelegt, dem Volk ihrer Mutter. Als sie die beiden den Raum betreten hörte, drehte sie sich um und schaute Gwydion eine Weile eingehend an, dann schenkte sie ihm ein warmherziges Lächeln, das gleich darauf einem Ausdruck der Besorgnis Platz machte.

»Was ist los?«, fragte Rhapsody und wandte sich vom Fenster ab. »Du siehst aus, als ob du zu deiner Hinrichtung gingest.«

»Du bist schon das zweite Familienmitglied an diesem Morgen, das auf diesen Gedanken kommt«, erwiderte Gwydion nervös und ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Er verneigte sich förmlich. »Sollte ich mir Sorgen machen?«

»Mach dich nicht lächerlich«, antwortete sie, zog ihn an sich und strich ihm zärtlich über das Haar. Ihre Gesichtshaut, die für gewöhnlich eine gesunde, rosiggoldene Färbung hatte, wurde blass, und die klaren grünen Augen füllten sich mit Tränen des Schmerzes. Sie ließ ihn los und ging hinüber zu einem Sessel, in den sie sich rasch setzte. Ihre Schwangerschaft war schwierig, wie Gwydion wusste. Sie ermüdete rasch, und ihr wurde leicht übel.

»In Kürze haben wir einige Neuigkeiten bekannt zu geben, aber da sie alle für dich unmittelbar von Belang sind, war ich der Meinung, du solltest sie hören, bevor die Öffentlichkeit sie erfährt«, sagte Ashe, goss seiner Frau ein Glas Wasser ein und reichte es ihr. »Falls du in irgendeiner Hinsicht anderer Meinung bist, werden wir selbstverständlich noch einmal darüber nachdenken.«

Gwydion seufzte tief. »In Ordnung«, sagte er und versteifte sich. »Worum geht es?«

Ashe verbarg ein Lächeln und legte die Hände auf Rhapsodys Schultern. »Erstens wird Hochanger, der neue Palast, den ich für deine ... Großmutter habe errichten lassen« – seine Drachenaugen zwinkerten belustigt bei dieser Bezeichnung für Rhapsody – »am ersten Tag des Herbstes fertig sein. Ich plane, unseren Hausstand dorthin zu verbringen. Es ist an der Zeit, Haguefort zu verlassen und unsere eigene Residenz zu beziehen.«

Gwydion drehte sich der Magen um. Rhapsody und Ashe hatten seit Stephen Navarnes Tod vor drei Jahren in Gwydions Familienburg gelebt; der Herzog und Ashe waren Jugendfreunde gewesen. Ihre Gegenwart war das Einzige, was das Leben in Haguefort erträglich gemacht hatte. Ansonsten wären die Erinnerungen zu schrecklich für Gwydion gewesen. Obwohl er ein junger Knabe und Melisande noch ein Kleinkind gewesen war, als ihre Mutter auf der Straße in die Stadt umgebracht worden war, erinnerte er sich noch an sie und vermisste sie, wenn die Nachtwinde um die Zinnen des Schlosses heulten und kreischten oder wenn die Tage warm und windreich waren wie jene, an denen er und seine Mutter früher hatten Drachen steigen lassen. Der Verlust seines Vaters, der vor seinen Augen in einer Schlacht gestorben war, hatte seinem Optimismus den Todesstoß versetzt. Auch wenn er wusste, dass er die Last dieser Tragödien immer mit sich herumschleppen würde, erschien sie ihm leichter, wenn er sie mit Leuten teilen konnte, die ihn liebten und seinen Vater geliebt hatten.

»Außerdem glauben wir, dass es eine gute Idee ist, wenn Melisande erst einmal mit uns in dem neuen Palast lebt.«

»Nur Melly? Ich nicht?«

»Richtig. Dazu kommen wir gleich.«

Gwydion nickte benommen. Alle Nerven schrien in ihm auf. Sie schicken mich wirklich weg, dachte er. Bei diesem Gedanken schwirrte ihm der Kopf.

»Zweitens«, fuhr Ashe fort, ohne seine Bestürzung zu bemerken, »möchten Rhapsody und ich in diesem Jahr wieder einen Winterkarneval abhalten.«

Gwydions Entsetzen explodierte. Der Winterkarneval war in Navarne eine lange Familientradition gewesen. Sein Vater hatte ihn immer gern zur Zeit der Wintersonnenwende ausgerichtet. Jahr für Jahr war dies ein großes Fest, das mit den heiligen Tagen beider Glaubensrichtungen des Kontinents zusammenfiel – der patriarchalischen Religion Sepulvartas wie auch des Ordens der Filiden, der Naturpriester des Kreises von Gwynwald. Das Fest dauerte drei Tage und wurde bestimmt von sportlichen Wettkämpfen, Essen, Sangeswettstreiten, Minne und Dutzenden anderer Fröhlichkeiten.

Der letzte Karneval hatte vor vier Jahren stattgefunden und war zu einem Blutbad ausgeartet. Dieses Grauen war in Gwydion noch sehr lebendig.

»Warum?«, fragte er. Er konnte seinen Widerwillen einfach nicht verbergen.

»Weil es Zeit wird, ins Leben zurückzukehren«, sagte Rhapsody sanft. »Dein Vater hat dieses Fest geliebt und wusste, wie wichtig es für die Einwohner seiner Provinz und für ganz Roland war. Es ist das einzige Mal im Jahreskreis, dass die Anhänger der Religion von Sepulvarta und der von Gwynwald zu einem angenehmen Zweck zusammenkommen. Insofern ist es wichtig für das gegenseitige Verständnis der beiden Glaubensrichtungen. Außerdem müssen wir etwas verkündigen, und das Fest scheint uns dafür die beste Gelegenheit zu sein.«