Unter der Eindringlichkeit seiner Stimme erbebten die Wände. »Aber ich weiß, dass ich an der Sonne ein Licht entzünden könnte, denn die erdverbundenen Nabelsucher wie Faedryth und Gwylliam haben nach der Macht nur in der Tiefe gesucht. Ich würde sie nicht so schnell aussaugen, und nicht jedes Mal, wenn man den Apparat anschaltet, droht die völlige Vernichtung. Ich brauche das Wissen aus diesen Schriftrollen, um sicherzustellen, dass mein Berggipfel nicht nur zur Lichtschmiede, sondern zum Lichtfänger wird. Er soll die Kraft nicht aus der Erde, sondern jenseits von ihr holen. Von einem Stern, von der Sonne – aus der Zeit vor der Geburt des Feuers. Dann kann ich dieses Instrument dazu benutzen, dort zu sehen, wo ich noch nicht sehen kann, mich da zu verteidigen, wo ich verwundbar bin, und die Festung um die Welt stärker zu machen, als es mir ohne das Gerät möglich wäre. Vielleicht – nur vielleicht – gelingt es uns, die Gruft versiegelt zu lassen, wenn wir die Erde, in der sie sich befindet, nicht antasten.«
Er warf einen letzten Blick nach oben.
»Es sieht dort übrigens ziemlich genauso aus wie hier drin.«
»Dafür gibt es einen guten Grund«, meinte Rhapsody traurig. Und während das Kind döste, erzählte sie ihm Elynsynos’ Geschichte von dem ersten Ende eines Drachen und der Errichtung der Gruft der Unterwelt.
»Der Gedanke, was aus Elynsynos geworden sein mag, quält mich«, sagte sie leise, als sie ihre Erzählung beendet hatte. »Ich weiß nicht, ob Anwyn sie getötet hat oder sie verletzt in ihre Höhle zurückgekrochen ist. Denn ansonsten wäre sie jetzt da draußen und würde versuchen, uns zu befreien.«
Achmed seufzte. Trost zu spenden gehörte nicht zu seinen Fähigkeiten.
»Vielleicht lebt sie noch und ist da draußen, aber sie kann nichts tun, um uns zu helfen«, sagte er unbeholfen.
»Aus welcher Substanz das einst lebendige Drachenfleisch auch sein mag, wenn es durch die Entfesselung der Elementarkräfte bei der Beendigung verbrannt wird, so ist es jedenfalls für alle Magie der Dämonen aus der Unterwelt undurchdringlich. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass ein Drache die Kraft hat, es zu öffnen. Das Einzige, was das kann, ist vermutlich ein Schlüssel wie derjenige, der die Sagia geöffnet hat. Und dieser steckt verborgen in Ylorc.«
»Selbst wenn sie noch lebt, ist sie sicherlich in einem Maße entsetzt, wie es nur ein Drache völlig verstehen kann. Außerdem sorge ich mich um Ashe. Früher oder später kommt er zurück, um das Kind und mich zu holen, und dabei wird er seinem Vater begegnen. Und da er Drachenblut in sich trägt, wird es eine verheerende Erfahrung für ihn sein.«
»So unschön das auch sein mag, es ist trotzdem die geringste unserer Sorgen«, sagte Achmed. »Wenn er endlich auf unser Steingefängnis stößt, das einmal sein Vater gewesen ist, wird uns schon lange die Luft ausgegangen sein.«
44
Der mittlere Tag der Woche wurde in Jierna’sid Markttag genannt. An diesem Tag wurden die roten Steinstraßen noch mehr als sonst von allen Arten von Kaufleuten und Händlern bevölkert, mit Verkäufern von Salzfisch und Schuhen, Leder und Stoffen, Gewürzen, Seilen, Bestecken, Salz und allen anderen möglichen Gütern. Daher befand sich auch die Mehrheit der Einwohner auf der Straße und nahm die Gelegenheit wahr, die Vorräte für den Winter aufzufüllen, was den Bewohnern der entlegeneren Gebiete nicht möglich war; sie mussten sich vor dem Einsetzen des ersten Schneefalls um die gesamten Vorräte kümmern, denn bis zur Tauperiode würden sie dazu keine weitere Gelegenheit erhalten.
Neben den Kaufleuten und Stadtbewohnern waren auch andere Menschen in großer Zahl auf der Straße: gereizte Kinder huschten hin und her, angeheizt durch das Gefühl bevorstehender dramatischer Ereignisse; Taschendiebe gingen unter der verstärkten Gegenwart der kaiserlichen Polizei ihrem Geschäft nach, Bettler und Krüppel und alle anderen Arten von Almosensuchern säumten die schmutzigen Gassen und hofften, aus dem angewachsenen Verkehr Gewinn zu ziehen, der indessen keineswegs zu anwachsender Freigiebigkeit führte. Wie in allen siebenundzwanzig sorboldischen Provinzen gab es auch hier überall Soldaten. Ihre Zahl und ihre Präsenz nahmen jeden Tag zu.
Auch eine weitere Gruppe konnte man an Markttagen in größerer Menge sehen: Pöbler und Randalierer. Manche waren nur Taugenichtse, manche ehemalige Mitglieder des kaiserlichen Heeres; sie bildeten eine regelrechte Kaste, die ganz Sorbold durchdrang; es waren menschliche Wesen, deren einziger Daseinszweck darin zu bestehen schien, das Elend anderer Menschen zu vergrößern. Diese Lümmel waren zwar in der Regel harmlos, aber ärgerlich; sie stromerten durch die Straßen von Jierna’sid vom Platz der Waage bis zu den äußersten Randbezirken des Stadtteils der Kaufleute, gingen Polizisten und Soldaten aus dem Weg, belästigten jedoch Passanten, rempelten gut gekleidete Männer an, geiferten Frauen hinterher oder begrapschten sie und bedrohten Kinder, was bei diesen Rüpeln Stürme von Gelächter hervorrief, die man noch viele Häuserblocks entfernt hören konnte.
An diesem Markttag geriet ein solcher Lümmel zufällig in eine Gruppe schlafender Bettler, die sich unter ein paar zerfetzten Lumpen in einer lichtlosen Gasse zusammengekauert hatten und nach saurem Bier stanken.
Hallo!, dachte der Lümmel und war zufrieden mit seinem Fund. Er schlenderte hinüber zu den schlafenden grauen Männern und stieß den ersten mit dem Fuß an. Als sich der Mann nicht regte, trat der Lümmel ihn heftiger.
»Wach auf, du stinkender Säufer! Hau ab von der Straße und geh mir aus den Augen. Es tut mir weh, solche wie euch die Straßen des Herrschers beschmutzen zu sehen. Haut ab, oder ihr werdet euer blaues Wunder erleben.«
Der Mann erwachte und sah ihn mit entsetzten, blinden Augen an, in denen sich das Morgenlicht und die Angst vor dem Peiniger spiegelten.
»Bitte, bitte, Herr«, murmelte er, als befinde er sich in den Fängen des Wahnsinns. »Bitte nicht ins Heer. Hab da mein Augenlicht verlorn. Will’s nicht noch mal tun.«
Der Rüpel lachte laut auf. Er warf einen genaueren Blick auf die beiden anderen Bettler. Beide waren lahm; der eine schlief noch, der andere wachte gerade mit einem Ruck auf. Der Rüpel zielte mit dem Fuß auf den Kopf des Erwachenden.
»Ich hab gesagt, steh auf, du Bett...«
Ihm blieb das Wort im Halse stecken, als die Hand des schlafenden Bettlers wie ein Blitz hervorschoss. Sie packte ihn am Fußgelenk und riss so heftig an der Wade, dass der Angreifer das Gleichgewicht verlor. Er fiel rücklings auf das Steinpflaster der Gasse und schlug schwer mit dem Kopf auf.
Benommen versuchte der junge Mann aufzustehen, doch eine unnachgiebige Hand wie aus Eisen packte ihn an der Kehle.
Bevor er wusste, was ihm geschah, wurde er bereits über die kalten, unebenen Steine der Gasse gezerrt, bis er sich Auge in Auge mit dem Bettler befand. Solche Augen hatte er noch nie gesehen. Sorbold war eine Nation der Dunkelhäutigen, deren Augen fast immer braun wie die Erde waren. Doch diese Augen hier waren himmelblau und brannten heller und heißer als die Feuer in den Straßenlaternen, die Jierna’sid bei Nacht erleuchteten. Der Bettler spuckte ihm ins Gesicht; es stank sauer nach schlechtem Bier und schmutzigen Zähnen.
»Hast du nichts Besseres zu tun, als die Unterdrückten zu belästigen, du Schurke?«, sagte der abgerissene Mann verächtlich. Er schlug den Kopf des jungen Mannes gegen die Wand, an der die Bettler gelehnt hatten, und tastete mit der anderen Hand nach dem Rest schalen Biers in der zerbeulten Schüssel, aus der sie getrunken hatten. Er schüttete es dem Lümmel vor die Beine. Dann zog er das Ohr des benommenen jungen Mannes an seine Lippen.