»Jetzt ist der Augenblick in deinem Leben gekommen, an dem du dich entscheiden musst, entweder erwachsen zu werden und ein Mann zu sein, oder du unterschreibst dein eigenes Todesurteil als streitsüchtiger Narr, der sich bei seiner Mutter dafür entschuldigen sollte, auf der Welt zu sein, und den bald ein peinliches Ende ereilen wird. Du kannst diesen Ort verlassen, nach Hause gehen, deine Kleidung wechseln und von nun an damit aufhören, alte Männer zu belästigen, die dir nichts Böses getan haben, oder du trommelst deine Gefährten zusammen und kommst mit ihnen zurück. Wenn du die zweite Möglichkeit bevorzugst, solltest du zwei Dinge im Gedächtnis behalten: Erstens wirst du ihnen erklären müssen, warum du dich bepisst hast. Zweitens wirst du mich nicht mehr hier finden – aber sei versichert, dass ich dich finden werde. Falls du den Zorn des Bettlers mit den blauen Augen nicht auf dich lenken möchtest, solltest du die erste Möglichkeit wählen.«
Er schlug den Jungen noch einmal mit dem Kopf gegen die Wand und ließ ihn dann auf die Straße sinken.
»Geh«, befahl er mit der dröhnenden Stimme eines Offiziers des Heeres.
Der Junge kämpfte sich benommen auf die Beine und stolperte aus der Gasse. Ein Chor entsetzten Gelächters begrüßte ihn an der Straßenecke.
Anborn wartete, bis der Lärm jenseits der Gasse erstorben war, dann suchte er unter den Fetzen seines Umhangs nach den Krücken.
»Wir suchen uns eine andere warme Straße, Freunde«, sagte er zu dem blinden Bettler und dem lahmen Mann. Er sah zu, bis die beiden unter gegenseitiger Hilfe die Straßenecke erreicht hatten Dann erhob er sich ächzend, humpelte an den Mauern entlang und suchte sich einen anderen Platz zum Beobachten.
Da er sich immer in den Schatten hielt, um jede Aufmerksamkeit zu vermeiden, dauerte es mehrere Stunden, bis er sich näher an den Palast von Jierna Tal herangearbeitet hatte, der sich oberhalb des Platzes der Waage dunkel vor dem Winterhimmel abzeichnete. Anborn hatte die Waage schon oft gesehen, doch etwas war nun anders an ihr – etwas, das er nicht benennen konnte. Vielleicht war es nur die Weise, wie das Licht auf sie traf und sich ihre langen Schatten über die Straßen legten. Es war jedoch auch möglich, dass das, was er während seines Aufenthalts in Sorbold gesehen hatte, einen Schatten des Makels über die gesamte Nation warf.
Wie er befürchtet hatte, gab es überall in Sorbold Anzeichen für Kriegsvorbereitungen. Die Kasernen, die früher nur in den Grenzbezirken und entlang der Durchgangsstraßen gestanden hatten, breiteten sich im ganzen Land aus; beinahe in jedem Häuserblock der Stadt war ein Posten errichtet worden. Alles geschah sehr verhalten; vielleicht hätte es jemand, der vorher noch nie in Jierna’sid oder den anderen sorboldischen Stadtstaaten gewesen war, nicht einmal bemerkt. Doch Anborn erkannte die Signale der Aufrüstung; der schrecklichste aller Kriege hatte ihn dafür empfänglich gemacht.
Und was er sah, ließ ihn erzittern.
Schließlich fand er ein warmes Eckchen unter einer kleinen Gerberei gegenüber dem Palast. Hier würden die Dämpfe und der Gestank eine mögliche Patrouille davon abhalten, allzu genau nachzuschauen. Von diesem Versteck aus konnte er beobachten, wie die Quartiermeister Rüstungen zur Reparatur hereinbrachten, was ihm weitere Aufschlüsse über Truppenbewegungen verschaffte. Er wartete, bis es dunkel war und die Gerberei geschlossen hatte, dann kroch er in die kleine Ecke und machte es sich dort so bequem wie möglich, so wie er es in allen Unterschlüpfen zwischen Jierna’sid und Ghant getan hatte. Er hielt Wacht und schrieb auf, was er sah. Nielash Mousa stand in der Stille der Morgendämmerung vor den Ruinen des Klosters und des Küsterhauses. Er wusste, dass sich die Tauperiode ihrem Ende näherte. Sogar die Wüste von Sorbold hatte einige Schneeflocken gesehen, die der reinigende Wind mitbrachte, der über die versengten Steine peitschte und die Asche in wirbelnden grauen Mustern umherblies.
Talquist stand hinter ihm und hielt den Kopf ehrerbietig geneigt.
»Eine furchtbar schreckliche Tragödie, Euer Ehren«, sagte er leise und drückte die Schulter des Segners mitleidig.
»In der Tat«, gab Mousa zurück. Der Blick seiner dunklen, von Asche und Tränen jedoch geröteten Augen ruhte auf dem bizarr geformten Metallteich, der einmal die Glocke des Hauses gewesen war. Er erinnerte sich an ihren klaren Klang, der durch die Berge gehallt war und die Priester sowie den Abt zum Messdienst nach Terreanfor gerufen hatte.
Er bemühte sich, gelassen zu bleiben und nicht unter dem Griff des Herrschers zusammenzuzucken. Sein Gesicht zeigte reine Trauer und enthüllte nichts von der Wut und dem Hass, die in ihm schäumten und wie Pulis, der sagenhafte Säuresee in der Gruft der Unterwelt, an seinen Eingeweiden fraßen. Angeblich wurden Verräter auf ewig in diesen Pfuhl getaucht. Möge die Legende stimmen und dein Schicksal beschreiben, Talquist, dachte er verbittert.
Als ob der Herrscher seine Gedanken gelesen hätte, drückte er Mousas Schultern noch fester.
»Ich weiß, dass dies ein schrecklicher Schlag für Euch ist, Euer Gnaden. Deshalb habe ich Vorkehrungen getroffen, die Euch die Trauer erleichtern werden. Euer Orden und Euer Kloster werden wiederhergestellt.«
Mousa drehte sich um und erwiderte den Blick des Herrschers. Hinter dem Mitleid in Talquists schwarzen Augen erkannte er einen kritischeren Ausdruck, ein durchdringendes Starren, das die Reaktion des Segners genau beobachtete und auf ihre Wahrhaftigkeit prüfte.
»Was für Vorkehrungen?«, wollte er wissen.
Talquist lächelte schwach. »Vorkehrungen aller Art, Euer Gnaden«, erwiderte er mit warmer und respektvoller Stimme, in der jedoch ein eisiger Unterton mitschwang. »Ihr braucht natürlich einen Ort, wo Ihr leben könnt, bis Euer neues Haus errichtet ist. Daher habe ich mir erlaubt, Euch in Jierna Tal unterzubringen, wo meine Diener und Wachen Euch jederzeit zur Verfügung stehen.«
»Wie freundlich von Euch«, sagte der Segner trocken.
»Und sicherlich möchten wir neue Priester und Messdiener anwerben.«
Nielash Mousa hob eine Braue. »Wir? Ich wusste nicht, dass Ihr Interesse an Glaubensdingen habt, Herr.«
Der Herrscher öffnete die Hände in einer versöhnlichen Geste. »Wie ungeschickt von mir; ich bitte um Entschuldigung. Ich vermute, Lasarys – möge der All-Gott ihn sanft im Nachleben in den Armen wiegen – hat Euch nicht gesagt, dass ich vor vielen Jahren unter ihm selbst Hilfspriester in Terreanfor war?«
»Ich verstehe«, meinte der Segner. »Welch ein Verlust für den Orden, dass Ihr seinem Ruf nicht gefolgt seid, mein Sohn.«
Talquist warf den Kopf zurück und lachte freudig, doch sein durchdringender Blick verlor nichts von seiner Schärfe.
»Ja, ich vermute, das wäre der Bezeichnung Kaiser vorzuziehen gewesen«, meinte er fröhlich.
Der Segner lächelte milde und machte dieselbe versöhnliche Geste wie Talquist kurz zuvor.
»Nun, einige von uns glauben das wirklich, Herr.«
Der Wind pfiff von den Bergen herunter; er brachte den scharfen Geruch von Asche mit und trug die Höflichkeiten der beiden Männer davon.
Talquist brach als Erster das Schweigen.
»Da die neuen Priester in meinem Haus wohnen und viele von ihnen bei meiner Throneinsetzung im Frühling dienen werden, möchte ich dafür sorgen, dass wir eine so fähige und treu ergebene Ernte wie möglich einfahren und ihre Ausbildung unverzüglich beginnt. Ich habe mir die Freiheit erlaubt, ein Bittgesuch an den Patriarchen mit dem Siegel Eures Amtes zu schicken, damit die Rekrutierung so schnell wie möglich beginnen kann.«
»Habt Ihr Euch noch andere Freiheiten in meinem Namen erlaubt, mein Sohn?«, fragte Mousa mit einer Stimme, die allmählich ihre Festigkeit einbüßte.
Talquists Lächeln verhärtete sich.
»Nur solche, die Euch und Sorbold dabei helfen, diesen schrecklichen Verlust zu überwinden, Euer Ehren«, sagte er ruhig. »Durch die Suche nach Euren neuen Hilfspriestern wird eine Menge Verwaltungsarbeit auf uns zukommen; daher habe ich meinen persönlichen Sekretär angewiesen, den gesamten Briefverkehr mit Sepulvarta zu übernehmen. Da Eure Sicherheit und Gesundheit für mich von höchster Bedeutung sind, habe ich zusätzlich angeordnet, dass meine persönlichen Wachen Euch auf all Euren Reisen begleiten, damit Ihr keine Gefahren mehr zu fürchten braucht.« Er beugte sich leicht zu dem Segner vor. »Ich kann verstehen, wie sehr Ihr Euch wegen dieses schrecklichen Ereignisses um Euer Wohlergehen sorgt, was ein völlig nachvollziehbarer, aber unnötiger Gedanke ist. Wenn das Schicksal zuschlägt, geraten die Menschen oft in Panik und werden ängstlich.«