Er betrachtete die Ruine des alten Glockenturms und sah dann wieder den Segner an. »Sie treffen unkluge Entscheidungen.«
Der Segner von Sorbold nickte schweigend.
»Gut«, sagte Talquist. »Ich will noch einmal mein tiefstes Mitgefühl angesichts Eures Verlustes aussprechen, Euer Ehren, und Euch versichern, dass ich Euch in jeder Hinsicht helfen werde. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass Sorbold aus diesem Verlust gestärkt hervorgeht und wir gemeinsam eine bessere Nation schaffen werden.«
»Ich werde darum beten, dass sich Eure Worte erfüllen, mein Sohn«, sagte Nielash Mousa, ergriff seinen Wanderstab und bedeckte den Kopf mit der Kapuze seiner Robe. »Vielen Dank für all Eure Bemühungen.«
»Es ist mir ein Vergnügen, Euch zu dienen, Euer Ehren«, sagte Talquist glatt. »Schließlich werdet Ihr bei meiner Thronerhebung amtieren. Daher muss ich bis dahin für Eure Sicherheit und Euer Wohlergehen sorgen.«
Der Segner lächelte. »Natürlich. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr Eurer Wache befehlt, mich nach Terreanfor zu begleiten, denn ich muss dort für die Seelen der verschiedenen heiligen Männer und für die ganze sorboldische Nation meine Gebete darbringen. Bitte sorgt für mehrere Wachablösungen, denn der Gottesdienst wird recht lang sein. Ich muss die Segensgebete für jeden Einzelnen sprechen, und wie Ihr wisst, sind viele Priester ums Leben gekommen. Und Sorbold ist eine große Nation.«
»Selbstverständlich. Betrachtet Euren Wunsch als gewährt, Euer Ehren.« Talquist gab dem Hauptmann der Wache ein Zeichen. »Eskortiert Seine Gnaden zur Erd-Basilika und stellt sicher, dass seine Gebete nicht unterbrochen werden. Niemand darf ohne meine ausdrückliche Genehmigung die Basilika betreten.« Der Wächter nickte und zog sich zurück.
»Vielen Dank, mein Sohn«, sagte Nielash Mousa, als sich die Soldaten um ihn aufstellten. »Mögen Eure Taten Euch hundertfach vergolten werden.«
Er verneigte sich leicht und ging davon. Beide Männer verstanden die Bedeutung der Worte des anderen genau.
45
Das Wachregiment folgte dem Segner von Sorbold auf der langen Wanderung zum Nachtberg, in dem Terreanfor versteckt lag. Der Weg führte über einen breiten Pass im trockenen Gebirge und schien sich auf ewig fortzusetzen.
Am Mittag schließlich erreichten sie den einzigen Eingang zur Basilika, eine in den Berg geschnittene, tief liegende Tür unter einem großen Vorsprung, der sicherstellte, dass kein Sonnenlicht in das Innere fiel. Neben der Tür befand sich ein großer, flacher Zeremonialstein. Der Segner gab zwei Wächtern ein Zeichen. Einer der beiden war widerstrebend dazu bestimmt worden, das goldene Symbol der Sonne auf einer langen Stange zu tragen, der andere hatte eine Flasche mit heiligem Öl in der Hand. Gewöhnlich wurde der Ritus von zwei Priestern Terreanfors durchgeführt, also blieb den Wachen nichts anderes übrig, als für sie einzuspringen. Der Segner schenkte ihrer offensichtlichen Verärgerung und ihren bösen Mienen keine Beachtung; sein Gesicht erstarrte zu einer Maske der Feierlichkeit. Er bedeutete dem ersten Soldaten, vorzutreten und das goldene Symbol auf den Stein zu legen, was dieser tat und so rasch zurückwich, als fürchte er aufgrund seiner Nähe zum Heiligen die göttliche Strafe. Dann griff der Segner nach dem Öl und goss es über das goldene Symbol. Er machte einen Schritt zurück und wartete darauf, dass die Sonne das Öl in die einzige Art von Feuer verwandelte, das in abgeschirmten Laternen in der Basilika erlaubt war.
Während der Segner wartete, beobachtete er belustigt aus dem Schutz seiner Robe die wachsende Langeweile und Verärgerung der Wachen. Bemerkenswert, dass man auf einem Gebirgspass oder in einer Kolonne tagelang Wache stehen kann, ohne unaufmerksam zu werden; aber schon wenige Augenblicke zu den Füßen des All-Gottes machen einen so nervös, dass man am liebsten den Posten verlassen würde, dachte er. Nun, ihr sollt nicht allzu lange warten müssen.
Als die Sonne schließlich eine Flamme entfacht hatte, überführte Nielash Mousa das Licht ehrerbietig in eine kleine Zeremoniallaterne. Er zündete sie nur aus Gründen der Tradition an. Da er in Terreanfor aufgewachsen war, fand er auch im Dunkeln und mit geschlossenen Augen den Weg durch die Basilika.
Sobald der Docht Feuer gefangen hatte, wandte sich Nielash Mousa an die Wachen.
»Vielen Dank für eure Hilfe, meine Söhne«, sagte er gnädig. »Nun werde ich meine Gebete sprechen und die Begräbnisriten durchführen. Da dies viel länger als eure Wache dauert, sage ich euch Lebewohl.«
Die Soldaten nickten, gingen fort und nahmen ihre Position neben der Tür der Basilika ein. Der Segner duckte sich unter den Vorsprung, murmelte die Worte der Öffnung und betrat die Basilika. Langsam und leise schloss er die Tür hinter sich.
Sofort hörte er das Lied der Erde aus den Tiefen der Basilika – die langsame, melodische Schwingung des Herzschlags der Welt. Dieser Klang hallte in seiner Seele wider, wie es seit dem ersten Augenblick der Fall gewesen war, als er ihn bemerkt hatte. Der Ton war so tief und flüchtig, dass er ihn in den ersten Jahren, die er in der Basilika verbracht hatte, gar nicht wahrgenommen hatte. Nun erkannte er ihn sofort; er war wie die Stimme seiner Mutter, die ihn mit dem Herzen rief.
Als er endlich in seinem geliebten Allerheiligsten war, brach der Segner zusammen. Er fiel hinter der Schwelle auf die Knie und beweinte die Männer, die unermüdlich und mit derselben Liebe zur dunklen Erde wie er hier gedient hatten, die neben ihm gebetet und über diese letzte Enklave des Schöpfers Wache gestanden hatten – über das uranfängliche Element, aus dem die Welt selbst gemacht war.
Die Erde weinte mit ihm.
Als er schließlich nicht mehr weinen konnte, erhob sich Nielash Mousa langsam, und mit dem Zögern des Alters ging er den Tunnel hinunter, der in die eigentliche Basilika führte.
Hier im Innern der Erd-Kathedrale machte das trockene, steinige Äußere, das von der Hitze der Oberwelt verbrannt war, dem frischen, kühlen Duft feuchter, lebendiger Erde Platz. Die Hitze der sorboldischen Wüste löste sich auf und wurde von kälterer, lebensschwerer Luft ersetzt. Das Licht in der Hand des Segners wurde von den glatten, sauberen Wänden zurückgeworfen, die mit prächtigen Wirbeln und Streifen aus tiefem, reichem Braun, Gold und Zinnoberrot, Grün und Purpur durchzogen waren. Es waren die Lebensfarben, die aus der uranfänglichen Welt hervorgekommen waren und an der Oberfläche in Gestalt von Blumen und Getreide, Gras und Trauben und all den anderen äußerlichen Anzeichen dafür erblühten, dass die Erde tief unter der Kruste lebendig war.
Der Lärm der Oberwelt verschwand; es blieb nichts zurück als Schweigen und der hallende Gesang der Erde, der mit jedem Schritt, den er in die Basilika tat, lauter wurde. Er folgte dem Lied unter dem hohen Bogen hindurch, der zum Vorzimmer der Schwestern und zu den Altären von drei anderen Elementen führte. In dem gewaltigen runden Zimmer befanden sich eine Nische, die eine Öffnung zu einer Flammenquelle aus dem Mittelpunkt der Erde hatte und das Element des Feuers ehrte, ein sprudelnder Strom zu Ehren des Wassers und eine gefangene Windbö, die auf ewig das Element der Luft pries. Die vierte Schwester, das Element des Äthers, fand sich tiefer in der Basilika, wo keinerlei Licht hindrang; hier spendeten glimmernde Felsen und Organismen, übrig geblieben von der Geburt des Universums, ein kaltes Licht.