Der Segner löschte seine Laterne und tauchte das Vorzimmer in angemessene Dunkelheit.
Er nahm seinen Weg durch das äußere Heiligtum, unter den riesenhaften Säulen aus Lebendigem Gestein in Form großer Bäume voller irdener Vögel, an den Statuen gewaltiger Elefanten und Gnus, Gazellen und Löwen vorbei, unter dem Bogen hindurch, der von titanischen Soldaten bewacht wurde, von denen einer fehlte, wie er mit Entsetzen feststellte, und betrat rasch das innere Heiligtum, den heiligen Altar aus elementarer Erde. Er hörte das Lied daraus in der Dunkelheit hervorkommen; es war eine so schmerzhafte Trauerklage, dass es ihm wieder die Tränen in die Augen trieb.
Die Basilika, seine Basilika war verwüstet worden.
Me wieder, dachte er und schüttelte den Kopf, während er sich vor dem Altar tief niederbeugte. Me wieder.
Die Worte des Patriarchen klangen ihm in den Ohren.
Nielash Mousa, warte. Schütze Terreanfor.
Ich verstehe, Euer Gnaden, flüsterte er noch einmal.
Mit trockenen Augen und entschlossenem Gesichtsausdruck sang der Segner und öffnete dabei seinen Geist und den elementaren Altar für die Bitten, welche die Sorbolder Gemeinde an ihn gerichtet hatte. Als der Ritus des Empfangens beendet war, begann er mit dem Ritus des Sendens und lenkte die Bitten entlang der Gebetskette nach Sepulvarta, wo der Patriarch sie dem All-Gott darbringen würde.
Als seine Übermittlung zum Ende gekommen war, vollführte der Segner die Begräbnisrituale und die Riten für die Toten. Für jeden der ermordeten Hilfspriester beugte er sich fünfmal über den Altar aus Lebendigem Stein und sang den Segen.
O unsere Mutter Erde, die auf uns wartet unter dem immerwährenden Himmel, beschütze uns, erhalte uns, gib uns Frieden.
Als schließlich auch die letzte seiner priesterlichen Pflichten erfüllt war, ging er durch das innere Heiligtum und schritt die breiten, dunklen Stufen zum Grabmal der sorboldischen Kaiser hoch. Vor weniger als einem Jahr hatte er das Begräbnis der Kaiserinwitwe und ihres Sohnes, des Kronprinzen Vyshla, zelebriert, die in einem Abstand von nur einer Stunde gestorben waren. Damals war ihm der Gedanke, sie könnten ermordet worden sein, nicht gekommen, nun aber gesellte sich dies zu Talquists übrigen Straftaten hinzu.
Es reicht, sang er und eilte die Stufen hoch. Es reicht.
Als Licht in das heilige Dunkel drang, betrat er die Begräbniskapelle an der Basis der Treppe der Gläubigen, die sich hoch zu den Gräbern mit den bleiverglasten Fenstern wand. Es war eine versiegelte Grab-lege, doch Nielash Mousa wusste, dass ein Eindringen durch die Fenster möglich war. Es handelte sich um einen Hintereingang nach Terreanfor und um den einzigen anderen Ort, an dem die im Nachtberg versteckte Kathedrale betreten werden konnte.
Nielash Mousa kniete an der Basis der Treppe der Gläubigen nieder.
Langsam stimmte er ein Lied an und sang Worte, die er vor langer Zeit gelernt hatte. Damals hatte er darum gebetet, er möge sie nie aussprechen müssen. Es waren die Worte des Schließens, Worte der Macht, der Zerstörung, in einer seit langem toten Sprache, die im Geheimen jedem Segner beigebracht wurden, der das Verwalteramt über Terreanfor seit der Errichtung der Kathedrale innehatte. Allen war erklärt worden, dass sie diese Worte nie benutzen durften, es sei denn, es gab keinen anderen Weg, und dann nur, wenn die Basilika selbst angegriffen wurde und die Gefahr bestand, dass sie zerstört oder, schlimmer noch, ihre Magie fehlgeleitet wurde. So etwas war bisher noch nie vorgekommen, nicht einmal in dem Krieg, der den größten Teil des Kontinents entzweigerissen hatte und in dem keine Waffe als zu unheilig angesehen worden war, um benutzt zu werden.
Doch jetzt war die Zeit gekommen.
46
Die Dunkelheit in der Höhle von Llaurons Körper schien sich zu verdichten.
»Gibt es denn keine Öffnung, kein Loch ....?«
Achmed hob leise die Hand und brachte Rhapsody zum Schweigen. Er schloss die Augen und ließ seiner Gabe des Pfadfindens freien Lauf. Er suchte einen Ausweg, irgendeine winzige Öffnung in dem gewaltigen Steingebilde. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Nichts«, sagte er. »Der Urvater der Drachen hat gewusst, was er tat, als er die Gruft der Unterwelt in seinen Körper einschloss. Wenn es auch nur ein winziges Loch oder eine Spalte gegeben hätte, wären diese gestaltlosen Geister entkommen. Seit tausenden von Jahren ist das aber niemandem gelungen, bis das Schlafende Kind auf die Erde fiel und die Gruft zerschmetterte. Es hat den Anschein, dass Llauron uns durch seinen Rettungsversuch zum Tod durch Ersticken verurteilt hat.«
»Ashe wird bald mit der Kutsche zurückkommen«, sagte Rhapsody. Ihre Augen schimmerten in der Dunkelheit vor aufsteigender Panik. »Er wird uns hier herausholen.«
»Wie? Welche Macht hat Ashe über eine gebrannte Hülle aus elementarer Erde? Etwa größere als Elynsynos?«
Das Bündel in Rhapsodys Armen regte sich; die Stimme des Kindes fing an zu jammern. Achmed sah, wie sich Rhapsodys Gesichtsausdruck völlig änderte; ihre Traurigkeit wurde durch Grauen ersetzt. Sie kämpfte sich schwach auf die Beine und fuhr mit der Hand über die gerippte Steinwand, dann schlug sie dagegen.
»Elynsynos! Hilfe! Elynsynos!«
Sie schlug noch einmal; es verursachte einen dumpfen, erstickten Laut, der vom Geschrei des Kinds übertönt wurde.
Achmed packte ihr Handgelenk und fühlte sich dabei schwindlig. Die Welt drehte sich für einen Augenblick, und er erinnerte sich plötzlich an das erste Mal, als er ihre Hand ergriffen und sie aus ihrem Heimatland in die Eingeweide der Erde gezerrt hatte. Das war ein ganzes Leben weit entfernt.
Er lockerte seinen Griff leicht, weil er ihr keine Schmerzen zufügen wollte, und bemerkte dabei, wie dünn die Haut an ihrem Arm und wie blutleer ihr Gesicht war, als sie es ihm voller Panik zuwandte.
»Psst«, machte er sanft in demselben Ton, in dem er ihr Kind beruhigt hatte. »Spar dir die Luft. Wenn sie noch lebt, weiß sie schon, dass wir hier sind. Rufen hilft nicht.«
Rhapsody sank zurück auf den Boden der Höhle, hielt das weinende Kind fester, und ihre Augen flössen vor Tränen der Verzweiflung über. Sie liebkoste ihr Kind kurz, dann schaute sie plötzlich auf.
»Doch, es hilft«, sagte sie langsam. »Doch, es wird helfen, wenn ich einen Blutsverwandten erreiche. An-born oder Grunthor ... wenn mein Ruf sie auf dem Wind erreicht...«
»Auf welchem Wind, Rhapsody?«, fragte Achmed ruhig.
Er spürte, wie die Atemluft sie zusammen mit der Hoffnung verließ.
»Komm hier herüber«, sagte er und lehnte sich gegen die Wand. »Ihr Lirin geht mit der Luft so verschwenderisch um, weil ihr gewöhnt seid, endlos viel davon zur Verfügung zu haben. Glaube einem Höhlenbewohner: Es ist das Beste, wenn du zu meditieren versuchst. Dann reicht die Luft länger.« Ihre Blicke trafen sich. Das Kind weinte nun schwächer. »Ruhe ist vielleicht das letzte Geschenk, das du deinem Kind machen kannst.«
Er lächelte schwach und versuchte damit, seinen Worten den Stachel zu nehmen.
Rhapsody starrte ihn lange an.
Dann begriff sie.
Sie kam zitternd auf die Knie und kroch zu ihm hinüber, dann lehnte sie sich gegen die Steinwand, die einmal Llaurons Körper gewesen war. Achmed atmete flach, während das Kind verstummte und sich seine kleine Brust langsam hob und senkte. Er legte den Arm um Rhapsody und zog ihren Kopf an seine Schulter.
»Meditiere«, flüsterte er angestrengt. »Versuch es und ... erinnere dich ... an das Beste in deinem Leben. Für ... etwas anderes ... reicht die Luft nicht mehr.«
»Du ... bist eines ... davon«, sagte sie sanft und lehnte sich gegen seine Schulter. Der Kopf wurde ihr schwer.
»Auch wenn wir ... gekämpft haben, ... liebe ... ich ... dich ...«
»Psst«, sagte er noch einmal. »Verschwende ... deinen Atem ... nicht.«