Durch seine Haut spürte er, wie ihr Herzschlag sich verlangsamte, bis er ihn kaum mehr wahrnahm.
Nielash Mousas Kopf summte vor negativer Energie, als er sang. Über dem linken Auge verspürte er einen stechenden Schmerz, und seine Stirn fühlte sich an, als wolle sie sich spalten. Entschlossen machte er weiter, bis das Fundament der Treppe der Gläubigen erzitterte und schließlich zusammenbrach. Die obere Gruft mit den Grablegen und Bleiglasfenstern war nun von der Außenwelt abgeschnitten.
Benommen ließ er sich in der vollkommenen Dunkelheit auf dem Boden nieder. Reglos saß er da, bis er seine Sinne wieder beisammen hatte und sie auf den Gesang der Erde richtete, der nun in Moll ertönte.
Dann ging er matt zu dem gewaltigen Schutthaufen, der einmal eine Wendeltreppe gewesen war, und untersuchte ihn.
Sobald er sich vergewissert hatte, dass das Siegel unbeschädigt war und die Basilika nie wieder auf diesem Weg betreten werden konnte, ohne dass die Kuppel der Grablege über dem Eindringling zusammenbrach, ging er zurück zu der breiten Treppe, durch das innere und äußere Heiligtum und an der Vorkammer der Drei Schwestern vorbei, bis er vor dem einzigen Ort im Nachtberg stehen blieb, an dem man die Basilika noch betreten konnte.
Die Vordertür.
Verstohlen spähte er über die trockene Steinschwelle an den gelangweilten Wachen vorbei und warf einen letzten Blick auf das Sonnenlicht, das er nie wieder sehen würde. Da war es, verschwommen hinter Schneeflocken. Still sagte ihm der Segner Lebewohl.
Er wandte dem Licht der Oberwelt den Rücken zu und begab sich wieder zu dem Altar aus Lebendigem Gestein. Leise sang er die Worte der Schließung. Die Verbitterung erstickte ihn beinahe, denn diese Worte waren das genaue Gegenteil des Liedes, welches die Kathedrale ins Dasein gerufen hatte: das heilige Gebet, das Terreanfor zum ersten Mal der Menschheit entdeckt hatte – oder zumindest jener Menschheit, die in der Lage war, Geschichte aufzuzeichnen. Er versuchte nicht an den Augenblick jener Entdeckung zu denken, als die Lebendige Erde zum ersten Mal in all ihrer dunklen und heiligen Schönheit zu sehen gewesen war, denn dieser Verlust war unermesslich.
Schütze Terreanfor. Der Patriarch hatte Leben und Seele dabei riskiert, die Gebetskette umzudrehen und diese Worte so auszusprechen, dass der Segner von Sorbold sie hören konnte.
Nielash Mousa kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit, die zerreißenden Schmerzen und den einsetzenden Blutfluss aus Nase und Augen an und sang weiter, bis der gesamte Eingangsbereich hinter dem Vorzimmer der Schwestern und mit ihm ein großer Teil des Nachtberges einstürzte und die Wachen unter einem Erdrutsch begrub. Er selbst war nun im Innern der Basilika gefangen.
Sie war für alle Zeiten versiegelt.
Tief im Innern eines fernen Berges holte in einem Gebiet, das an Sorbold grenzte, das letzte lebende Erdenkind tief Luft. Das Fieber, in dem es gelegen hatte, verschwand; die glatt polierte Haut auf der Stirn schimmerte.
Sofort fiel es in einen tiefen Traum.
Rhapsody fuhr mit zitternden Fingern durch Meridions welliges Haar. Sie war zu schwach zum Singen und summte stattdessen nur den Ton ihres eigenen Namens, ela, der sechste Ton der Tonleiter, der Neubeginn, und hoffte, dass er dem Kind ein wenig Kraft oder zumindest Beruhigung verschaffte.
Sie dachte an die Zeit zurück, als dieser Ton ihr selbst Trost gespendet und sie an den Stern erinnert hatte, unter dem sie geboren war, sowie an das Band zu ihm, obwohl sie damals mitten in der Erde gesteckt hatte und an der Axis Mundi entlang gekrochen war. Die Luft in der Höhle wurde immer dünner. Ihr war warm, und sie fühlte sich schwindlig. Sie redete sich ein, sie krieche immer noch an der Wurzel entlang und bekämpfe das Ungeziefer, das sich von ihr nährte; sie kämpfe um ihr Überleben, bringe Grunthor das Lesen bei, während er sie den Schwertkampf lehrte, und folge Achmed, der sie durch die endlosen Tunnel der Dunkelheit führte und dabei auf seine Gabe des Pfadfindens vertraute.
Ich habe ihm diese Gabe verschafft, dachte sie, als Meridion nach Luft schnappte. Tränen, die sie nicht bemerkte, fielen auf seine dünne Haut. Wie hatte ich ihn noch gleich benannt, damit er unverletzt durch das Feuer im Erdmittelpunkt schreiten konnte? Die Dunkelheit schien dichter zu werden. O ja, unfehlbarer Fährtenleser, Pfadfinder. Firbolg, Dhrakier, Mörder, Erstgeborener.
Mein Freund.
Ihr war so schwindlig, dass sie nicht den Kopf drehen konnte, doch sie spürte, dass sein Blick auf ihr ruhte. Er konnte in der Dunkelheit sehen, so wie jeder Höhlenbewohner. Sie dachte an Grunthor und daran, wie leicht er durch Tunnel und Höhlen gehen konnte, und an den Namen, den sie ihm gegeben hatte, damit er ebenfalls in Sicherheit das Feuer durchqueren konnte.
Spross des Sandes unter freiem Himmel, Sohn der Höhlen und der finsteren Lande. Bengard, Firbolg. Sergeant-Major. Mein Ausbilder und Beschützer. Herr der tödlichen Waffen. Oberste Autorität, der unbedingt Gehorsam zu leisten ist. Treuer Freund, stark und zuverlässig wie die Erde selbst. Diese Benennungen hatten Grunthor an die Erde gebunden und ihm erlaubt, ihren Herzschlag in seinem eigenen zu verspüren.
Trotz ihrer Benommenheit kam ihr ein Gedanke.
Er ist immer noch an die Erde gebunden, dachte sie verworren. Elynsynos hatte einmal gesagt, dass die Firbolg einer Paarung der Erdenkinder entstammten, und zwar des Schlafenden Kindes mit Kith, der Erstgeborenen-
Rasse, hervorgegangen aus dem elementaren Wind. Der Name selbst, Firbolga, bedeutete Wind der Erde. Also hatte er von Geburt an eine Beziehung zu ihr, dachte sie.
Unter großen Mühen brachte sie den Kopf ihres Sohnes an ihre Lippen.
Wind der Erde. Die Worte wurden lauter, als sie sie von irgendwo anders hörte – oder von jemand anderem. Plötzlich lichtete sich die Dunkelheit.
Nachdem die Umgebung von Ylorc gesichert war, ging Grunthor den unterirdischen Gang durch die Dunkelheit zum Loritorium und zitterte vor Angst, was er dort nach dem Angriff der Drachin vorfinden mochte.
Als er auf dem Hügel aus Schutt stand, der letzten Barriere zwischen der Oberwelt und dem Kind der Erde, umspielte sein Gesicht ein kühler Luftzug aus der unterirdischen Kammer, ein Erdenwind, der ein Gefühl der Beruhigung mit sich brachte, wie er es seit langem nicht mehr verspürt hatte.
Er schritt die Moräne so leise wie möglich hinunter und näherte sich dem Grab.
Ein Ausdruck der Erleichterung legte sich über sein breites Gesicht.
Das Kind schlief noch ungestört; das glatte Gesicht aus poliertem Stein war kalt und trocken, und die Augenlider bewegten sich nicht. Die eingesunkenen Stellen um die Gesichtsknochen waren verschwunden, das Schrumpfen des Körpers hatte aufgehört. Der Atem ging leise und gleichmäßig und stand im Einklang mit dem schlagenden Herzen der Erde, das Grunthor in seiner Seele spürte. Er hätte nicht beschreiben könnte, was er beobachtete, doch die Rückkehr der Gesundheit in die unterirdische Kammer, die schon so viel Zerstörung erlebt hatte, war unübersehbar.
Er beugte sich vorsichtig über das Kind und drückte ihm die aufgeworfenen Lippen gegen die Stirn. Sie war kühl, und die Anspannung war fort.
»Ich wünsch dir süße Träume, mein Lieb«, flüsterte er.
Rhapsody bemühte sich, aufrecht zu sitzen. Sie legte Meridion vorsichtig in Achmeds Schoß und sah, wie er überrascht die Hände um das Kind schloss. Dann wandte sie sich wieder der Wand zu, die einmal der Körper ihres Schwiegervaters gewesen war, eines freundlichen, gelehrten Mannes, dessen Verlangen, die Fehler seiner Jugend und seiner Familie wieder gutzumachen, ihn von der Familie getrennt hatten, deren Gedeihen er so gern zugeschaut hätte.
Nun war er nur noch ein Gefäß aus gebrannter elementarer Erde.
Ihre Hände zitterten, als sie die Wand berührte.
Aus ihrer Kehle drang ein Laut, den Achmed nie zuvor gehört hatte. Es war ein harsches, kehliges Geräusch, das gegen seine empfindlichen Ohren trommelte und tief aus ihrem Innern kam. Zuerst erkannte er die Worte nicht, denn der Lärm war so misstönend und rau. Einen Moment später begriff er, dass sie sang. Auf Bolgisch.