»Beim Stern«, sang Rhapsody mit tiefer Kehle, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.«
Sie ruft nach einem Blutsverwandten, bemerkte er geistesabwesend und schaute auf das winzige Kind in seinen Armen. Das ist eine Verschwendung von Zeit und Luft. Aber der Versuch, sie aufzuhalten, könnte noch mehr davon verschwenden. Soll sie sich doch an ihre wertlose Hoffnung klammern, es ist gleichgültig.
»Grunthor«, sang sie mit der gleichen rauen Schwingung, die schon beinahe ein Jammern war, »stark und ...
verlässlich wie ... die Erde ... selbst.«
Nichts geschah.
Achmed bekam von diesem Lärm Kopfschmerzen.
»Hör auf damit, Rhapsody«, murmelte er.
Sie schüttelte den Kopf, hielt sich immer noch an der Wand fest und wiederholte den Gesang unermüdlich mit tiefer Kehle. Sie schien eine Ewigkeit lang zu singen, bis Achmed Sterne sah.
Die Dunkelheit holte ihn.
47
Anborn hörte das Kreischen trotz des gewaltigen Lärms in der Gerberei.
Die Nacht brach herein, und die Stadt Jierna’sid stellte ihre erlaubten Geschäfte für heute ein. Zu solchen Zeiten wagte der Marschall zu schlafen, denn die späteren Stunden, in denen die schändlicheren Unternehmungen der Stadt offenbar wurden, gehörten zu seinen wichtigsten Wachzeiten. Daher befand er sich gerade in unruhigem Schlummer in seiner Kammer unter dem Ledermachergeschäft, als Faron in die Stadt zurückkehrte.
Der Riese war am entgegengesetzten Ende der Hauptstraße aufgetaucht, die Jierna’sid unterteilte und nach Jierna Tal führte.
Zuerst bemerkte die Bevölkerung von Jierna’sid bei ihrer Vorbereitung auf die Nacht den Kampflärm nicht. Die Händler schlössen ihre Geschäfte, die Soldaten gingen Patrouille, die Arbeiter wollten im schwindenden Licht noch das eine oder andere fertig bekommen. Doch Anborns Ohren waren empfindlicher; der Grund dafür lag sowohl in seinem Drachenerbe als auch in den Jahrhunderten militärischer Führerschaft. Beinahe sofort erkannte er den Lärm einer Panik.
Als er sich endlich zur Öffnung seines Unterschlupfes gezogen hatte, war auch der Stadt inzwischen klar geworden, dass etwas ganz und gar nicht stimmte – und dass etwas auf sie zukam.
Vor dem Westtor der Stadt ragte ein Schatten auf, ein gewaltiger Schatten, der im schwindenden Licht die Farbe der Wüstenerde angenommen hatte. Anborn spürte sein Näher kommen in den Erschütterungen, die durch die gepflasterten Straßen liefen.
Bei der Unterwäsche Gottes, dachte er, was kann an diesem Ort des alltäglichen Grauens so schrecklich sein?
Die Antwort erhielt er einen Augenblick später durch das Zischen der Bogensehnen und die gebrüllten Befehle einer ganzen Kohorte, die von den Kasernen bei Jierna Tal auf das Westtor zulief.
Schreie zerrissen die Luft, als die Soldaten, die beim Westtor stationiert waren, den gigantischen Mann angriffen. Seinem Äußeren und den groben Gesichtszügen nach schien es ein Soldat aus einer primitiven Rasse zu sein. Die Augen hatten einen milchigen Überzug und waren starr auf den Palast von Jierna Tal gerichtet. Der Angriff ging in einer gewaltigen Blutfontäne unter; Körper flogen nach rechts und links, stießen mit Ochsenkarren zusammen, wurden zerschmettert, und ihre Glieder wurden so mühelos abgerissen, als seien sie Spreu vor dem Drescher.
Von seinem Platz unter der Gerberei beobachtete Anborn, wie der Schatten an ihm vorbeiging und gerade lange genug anhielt, um einen zurückgelassenen, mit schweren Fässern beladenen Müllerkarren hochzuheben und in das Fenster eines hundert Schritt entfernten, eleganten Geschäfts zu schleudern. Im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung, die entweder erstarrt am Straßenrand stand oder sich wie Blätter im Sturm zerstreut hatte, erkannte er etwas in der Färbung des gebückten Riesen, was niemand anderes bemerkt hatte. Dieser Anblick führte dazu, dass der alte Kriegsheld, der General von Gwylliams Heer im cymrischen Krieg, der Marschall des cymrischen Bündnisses und Krieger der Bruderschaft der Blutsverwandten, zunächst vor Entsetzen erstarrte und dann ein gemurmeltes Gebet herauspresste.
Denn Anborn sah, dass das Gesicht aus Lebendigem Gestein bestand.
Nachdem er mehr als genug gesehen hatte, wartete er, bis der Titan die Tore von Jierna Tal zerschmettert hatte. Dann zog er sich inmitten der Verwirrung, die durch die Straßen wogte, unter der Gerberei hervor, stahl ein reiterloses Pferd und bahnte sich in aller Hast einen Weg zurück nach Haguefort.
Auch Talquist hörte die Schreie.
Er befand sich mitten bei einem angenehmen Abendessen, als der Lärm durch die Fenster seines Balkons drang. Es hatte als schriller, ferner Chor begonnen, steigerte sich aber rasch zu einer Kakophonie, die bei ihm zu plötzlicher Magenverstimmung führte.
Erzürnt erhob er sich von seinem Mahl, warf die Leinenserviette heftig auf den Boden und ging hinüber zum Balkon. Er riss die Türen auf und trat in die kalte Luft.
Vom Balkon aus sah er die Welt unter sich dem Wahnsinn verfallen.
Die Höhe der Terrasse ermöglichte ihm einen schrecklichen Ausblick auf die Straßen von Jierna’sid, die aus der Luft wie ein Gitternetz wirkten. Die Hauptstraße schleppte sich ein menschlicher Schatten entlang. Da man ihn aus dieser Entfernung erkennen konnte, musste er ungeheuer groß sein. Um ihn liefen winzige menschliche Gestalten in Ameisengröße herum. Einige rannten davon, andere hasteten auf ihn zu, nur um wenige Sekunden später durch die Luft geschleudert zu werden. Einige waren erfolgreich in ihrer Flucht, andere nicht. Talquist verlor vor Schreck sein Wasser; es floss auf den Boden des Balkons.
Es gab keinen Zweifel an dem, was da auf ihn zukam.
Im nächsten Augenblick schrie er bereits Befehle an den Hauptmann der Wache. Kohorten und Divisionen sollten aus den Kasernen unten antreten. Er beobachtete entsetzt, wie seine Befehle ausgeführt wurden. Eine ganze berittene Kolonne donnerte die Straßen entlang und feuerte auf den herannahenden Titanen, wobei sie auch die fliehende Bevölkerung nicht schonte. Talquist starrte die gewaltige Statue an, die nun mehr als nur Stein war und durch die Reiter watete, als wären sie Meeresschaum. Sie schlug nach Männern und Tieren aus und richtete ein solches Blutbad an, dass Talquist nichts anderes mehr übrig blieb, als sich umzudrehen und zu fliehen.
Er kannte das Ziel der Statue.
So schnell er konnte, rannte er vom Balkon zur Turmtreppe und nahm je zwei Stufen auf einmal. Seine schwere Samtrobe war kein angenehmer Luxus mehr, sondern nur noch hinderlich. Kaum hatte er die Tür zum höchsten Turm erreicht, als er die massiven Tore des Palastes splittern hörte. Die Schreie hallten durch Jierna Tal und erschütterten die Mauern des Turms.
Es gab keinen Ort mehr, zu dem er fliehen konnte.
Grauer Schweiß quoll ihm aus Stirn und Hals, als sich die donnernden Schritte des Titanen näherten. Der Lärm der Gegenwehr war erstorben. Nach der Tötung der Soldaten, die den Riesen aufhalten sollten, war das gesamte Haushaltspersonal geflüchtet oder versteckte sich. Der Herrscher hörte die schweren Schritte des Riesen gnadenlos und unbeirrbar herannahen.
Der Turm erbebte heftig, als Faron die Treppe hoch stieg. Auf dem Weg zu seiner Beute nahm er vier Stufen auf einmal. Talquist verlor den letzten Rest seiner Gelassenheit und kreischte auf. Er schlug die Tür zum höchsten Turm hinter sich zu und verriegelte sie, doch er wusste genau, wie sinnlos das war.
Er hatte hinter einem umgekippten Tisch aus glänzendem Walnuss Schutz gesucht, als die Tür zersplitterte und der Gigant in ihr auftauchte. Er zog seinen massigen Körper durch die steinumfasste Öffnung, die zu niedrig für seine Größe war.