Talquist schrie noch einmal auf. Da er wusste, dass Faron aus Rache gekommen war, fiel er auf die Knie und betete in der unsinnigen Hoffnung, der Riese könne diese Geste des Sichergebens begreifen und davon gerührt sein.
Faron zerschmetterte die Steine der Türeinfassung.
Alle Hoffnung verließ Talquist, und er weinte.
»Nein, Faron«, keuchte er und rang entsetzt nach Luft. »Bitte! Ich wollte doch nur ...«
Als ihn die blauen, von einer milchigen Schicht überzogenen Augen der lebendigen Statue steinern anstarrten, fiel er in Schweigen.
Langsam durchquerte der Titan den kleinen Raum, bis er unmittelbar vor dem Herrscher stand.
Er streckte einen Steinarm aus, der sich in der Höhe von Talquists Hals befand.
Die gigantische Hand öffnete sich.
In ihr lagen fünf farbige Schuppen, jede ausgefranst an den Enden, jede mit Runen in einer lange untergegangenen Sprache beschriftet. Jede hatte eine andere Färbung, doch im schwindenden Licht der Abenddämmerung leuchteten sie alle in den Farben des Regenbogens.
Sie summten eine Sinfonie der Macht.
Mit großer Behutsamkeit bückte sich der Titan und legte die fünf Scheiben dem Regenten vor die Füße. Talquist starrte Faron einen schier unendlich langen Augenblick an. Schließlich fand er Sprache und Verstand wieder.
Er griff in die Falten seiner Robe, in der er seinen Schatz, die violette Schuppe trug, zog sie hervor und hielt sie vor die milchigen Augen der Statue.
»Ist es das, was du willst, Faron? Die Vervollständigung von Sharras Kartenspiel? Willst du dich mit mir verbünden und sie wieder zu einem ganzen Spiel zusammenfügen?«
Der Titan nickte langsam.
Der Herrscher stieß scharf die Luft aus.
Und kicherte erleichtert.
Und gab schließlich ein wahnsinniges Lachen von sich, das durch den Turm hallte, die Treppe hinunterlief, den Palast entlangflog und in die Nacht entwich, wo es triumphierend durch die Straßen von Jierna’sid tönte. Ein Donnern erschütterte die Höhle, die einmal Llauron gewesen war. Achmed setzte sich aufrecht und weckte das Kind.
Rhapsody war vor der Wand zusammengebrochen, an der sie gesungen hatte. Sie regte sich kaum, als das Donnern endete.
Ein Licht erschien auf der Wand und bildete eine Tür in der großen Steinbestie. Achmed riss sich zusammen und stand mit letzter Kraft auf. Er verspürte ein Stechen in den Augen, während er Rhapsody hinter sich hochzog und immer noch das Kind im Arm hielt.
Eine dunkle Gestalt, etwa anderthalb mal so groß wie ein Mensch, erfüllte die Öffnung.
»Na, kannst selbst nich’ in Ylorb bleiben un’ lockst mich jetzt auch davon weg?«
Achmed stolperte vor und drückte Rhapsody in Grunthors weit ausgebreitete Arme, während er mit der anderen Hand noch immer das Kind hielt.
»Luft«, krächzte er.
Das Licht wurde schwächer und verschwand. Der riesige Bolg packte die Herrin der Cymrer, hob sie aus der Höhle, setzte sie rasch und sanft auf dem Schneeboden ab und zog dann auch Achmed durch die Öffnung. Schließlich warf Grunthor einen Blick in das Innere und stieß dabei einen lauten Pfiff aus.
»Verdammt, was ist das?«
»Das war ... einmal... Llauron«, sagte Achmed und hustete, als sich seine Lunge mit der schneegeschwängerten Waldluft füllte. Er atmete tief durch und schaute dann den riesigen Sergeanten an. »Er hat uns vor Anwyn gerettet«, sagte er, als er wieder reden konnte.
»Ah, die is’ bis hierher gekommen?«, murmelte Grunthor. »Verdammtes Luder. Bin froh, dass ich das hier mitgebracht hab.« Er hielt den Schlüssel aus Lebendigem Gestein hoch, der damals die Wurzel der Sagia geöffnet hatte. »War grade in der Gruft, als der Ruf kam, und hatte so ’n Gefühl.«
Grunthor sah auf das herunter, was in Achmeds Armen lag, und erstarrte. Seine bernsteinfarbenen Augen weiteten sich im Morgenlicht. »Was hast’n da?«
Achmed schüttelte den Kopf und nickte in Rhapsodys Richtung, die sich langsam erhob und auf die Kutsche schaute, die auf der nahen Lichtung wartete.
Sie sah zu, wie ihr Gemahl sich der Höhle näherte; sein Gesichtsausdruck war wie das Ende der Welt.
48
Der Winter war mit aller Macht zurückgekehrt, als die Karawane den geschützten Hof von Haguefort erreichte. Gwydion Navarne beobachtete das Eintreffen der Wagen hinter den hohen Fenstern über der Bibliothek. Der Feuerschein spiegelte sich im Glas wider und wärmte einen Raum, der seit langem sehr kalt gewesen war. Wie lange, wusste er nicht mehr. Er wartete ungeduldig darauf, dass sich die Türen öffneten, doch der Fahrer ließ sich Zeit und kutschierte so nah wie möglich an die Treppe heran.
Melisande stand neben ihm. Sie war in ihr Gewand gehüllt und tänzelte ungeduldig, denn sie wollte das Kind sehen.
»Warum beeilen sie sich nicht?«, wollte sie wissen und drückte sich wieder vor ihren Bruder.
Gwydion legte ihr sanft die Hände auf die Schultern.
»Sie möchten das Kleine warm halten«, sagte er und dachte daran zurück, was er in Ghant gesehen hatte und was es für die Zukunft bedeutete. Er umfasste die Schultern seiner Schwester, als wolle er sich an ihr festhalten, ohne sie aber zu beunruhigen. »Ich vermute, das ist so bei Kindern – und bei Schwestern.« Er lächelte Melisande so beruhigend wie möglieh an, als sie zu ihm aufschaute und das Gesicht in spaßigem Zweifel verzog.
Sie standen weiter am Fenster und sahen zu, wie Ashe endlich aus der Kutsche stieg, gefolgt von einer schattenhaften, verhüllten Gestalt, in der Gwydion sofort den Bolg-König erkannte. Die Kuschte schaukelte kurz von einer Seite zur anderen, und zu seiner Freude sah der junge Herzog auch Grunthor aussteigen.
»Sie sind ...« Seine Worte erstarben; Melly war schon aus dem Zimmer gerannt. Er hörte ihre Schritte die große Treppe hinunterhasten. Gwydion lächelte und folgte ihr.
Als sie den Eingang zur Festung erreicht hatten, trug Ashe das Neugeborene schon nach drinnen und übergab es mit einem schiefen Lächeln der Kammermagd, die die Tür geöffnet hatte. Die Dienerin nahm das Kind an sich und trat aus dem Luftzug, als der Herr der Cymrer die Hand nach draußen streckte und Rhapsody über die Schwelle half. Nun schwärmten die Hausangestellten auf sie zu und nahmen Mäntel, Hüte und Winterkleidung entgegen.
Erregung übermannte Gwydions natürliche Zurückhaltung. Er schoss durch die Vorhalle zur Tür und warf die Arme um Rhapsody, deren Lächeln strahlend war, auch wenn sie blass und abgespannt aussah. Er sah freudig zu seinem Paten auf, doch dieser schaute geistesabwesend zu der Kammermagd hinüber, die das Kind wiegte. Kälte überlief ihn; er wusste nicht, warum.
Melisande umarmte Ashe und schien dessen Geistesabwesenheit nicht zu bemerken.
»Darf ich ihn einmal halten, bitte, bitte!«
»Unbedingt«, sagte Ashe. »Portia, gib Melisande bitte das Kind.«
Die Kammermagd nickte ehrerbietig. Nachdem sie die Tür hinter dem Firbolg-König geschlossen hatte, trug sie das Kind durch die Halle und legte es der wartenden Melisande in die Arme.
»Es tut mir Leid, dich bei deiner Ankunft gleich überfallen zu müssen«, sagte Gwydion leise zu Ashe, »aber ich habe etwas sehr Dringendes mit dir zu besprechen, sobald Rhapsody und das Kind sicher untergebracht sind. Ich bedauere, dich auf diese Weise zu belästigen, aber ...«
Ein lautes metallisches Klirren war aus dem Korridor zu hören, der zur Großen Halle führte.
Die beiden Firbolg, der Herr und die Herrin der Cymrer, die Kinder von Navarne und das gesamte Hauspersonal schauten auf, als Anborn in der Tür erschien. Er stand aufrecht und ohne Krücken inmitten der großen Gehmaschine, die man ihm aus Gaematria mitgebracht hatte.
»Gütiger All-Gott«, rief Ashe aus. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich diesen Tag noch erlebe.«
»Mögest du noch viele Tage erleben, die du nie erwartet hättest«, sagte Anborn ernst.
»Was hat dich umgestimmt, Onkel?«
Anborn seufzte schwer und richtete den Blick auf das Bündel in Melisandes Armen, das nun heftig strampelte.
»Ich muss für das bereit sein, was kommen wird«, meinte er dunkel. »Du und ich müssen nun miteinander reden, Gwydion. Dein Mündel hat dir vielleicht schon erzählt, was er und ich nach unserer Abreise beobachtet haben. Und ich muss dem leider noch schlechtere Nachrichten hinzufügen.« Er blinzelte, als Ashe das Kind aus Melisandes Armen nahm, zu ihm hinüberging und es ihm reichte.