»Wenn er kommt, werde ich Euch ihm gern vorstellen, aber ich kann nicht versprechen, dass er in ein längeres Gespräch mit Euch einwilligt«, sagte sie. »Achmed ist... nun ja, er kann unberechenbar sein.«
»Ich verstehe«, meinte JaFasee. »Und ich bin dankbar für jede Unterstützung, die Ihr mir gewährt. Ich habe vor, bis zur Sonnenwende hier zu bleiben und an der Amtseinsetzung teilzunehmen. Es wäre für mich unmöglich, innerhalb der verbleibenden zwei Monate nach Hause und wieder her zu reisen.« Seine Augen leuchteten hell.
»Zumindest ohne besondere Hilfe.«
Rhapsody lächelte. »Eines Tages möchte ich gern etwas über diese >Hilfen< erfahren«, sagte sie, stand auf und richtete ihre Röcke, da sie die Halle verlassen wollte. »Auch wenn ich weiß, dass die Meeresmagier sehr zurückhaltend sind, wenn es um ihre Magie geht.«
Der Botschafter nickte nichts sagend. »Es wäre mir eine große Ehre, Euch etwas darüber zu berichten, vor allem da Ihr im Rang einer Benennerin steht, Herrin«, sagte er und bot ihr seinen Arm an. »Euer Eid, immer die Wahrheit zu sagen und die alten Überlieferungen zu schützen, macht Euch zu einer der wenigen Personen außerhalb von Gaematria, mit der man angemessen über solche Dinge reden kann. Wenn Ihr Euch dazu in der Lage fühlt, können wir vielleicht einen Spaziergang durch die Gärten machen und uns darüber unterhalten.«
»Vielen Dank. Das klingt sehr verlockend«, meinte Rhapsody und ergriff seinen Arm.
»Vielleicht könnt Ihr mir als Gegengabe etwas mehr über den Bolg-König erzählen«, schlug JaFasee vor, während er durch die Große Halle schritt. »Er ist einer der beiden, mit denen Ihr von Serendair entlang der Wurzeln der Sagia bis hierher gereist seid, nicht wahr?«
Die cymrische Herrscherin blieb schockiert stehen. Zitternd zog sie ihren Arm fort. Außer Ashe wusste keine lebende Seele, wie sie und ihre beiden Freunde aus der alten Welt dem Untergang der Insel Serendair entkommen und auf der anderen Seite der Zeit hier gelandet waren.
»Woher ... woher wisst Ihr das?«, fragte sie mit versagender Stimme. Sie war so überrascht, dass sie ihre Verblüffung nicht elegant überspielen konnte. Die von der Schwangerschaft herrührende Übelkeit und Erschöpfung, gegen die sie andauernd ankämpfen musste, verhinderten dies.
Jal’asee lächelte sie an.
»Weil ich Euch das Land habe verlassen sehen.«
5
Die Abenddämmerung setzte ein und nahm das verbliebene Licht des Nachmittags mit.
Talquist, der Regent des weiten, dürren Reiches Sorbold, hatte den halben Tag hindurch im hinteren Teil seines üppigen Reisewagens Notizen niedergeschrieben und über Bilanzen gebrütet. Er hatte die Blende vor dem Fenster hochgezogen, damit er bei seiner Arbeit frische Luft und Licht bekam. Nun, da die Nacht herannahte, hielt er inne und löschte die Tinte auf dem letzten Schriftstück, bevor er sich erlaubte, einen Blick aus dem Fenster auf den Sonnenuntergang zu werfen.
Auch wenn er sich in aller Bescheidenheit dazu entschlossen hatte, nur ein Jahr lang zu herrschen, obwohl die Waage von Jierna Tal zu seinen Gunsten ausgeschlagen war und ihn als Herrscher bestätigt hatte, gönnte sich Talquist schon jetzt den Luxus des Amtes, das er bald für immer innehaben würde. Er hatte den ganzen Tag von den Gaben gekostet, die ihm die Kaufmannschaft zukommen ließ, aus der er als Führer der westlichen Gilden hervorgegangen war: Süßigkeiten aus Golgarn, Blätterteigpasteten mit Honig und Kardamom, geröstete Nüsse und köstliche
Weine aus dem Hintervold, wo die gefrorenen Trauben durch Eis gepresst wurden und einen unvergleichlichen Nektar ergaben. Sein ganzes Leben lang hatte er im Handel des Kontinents gearbeitet und daher eine Vorliebe für feine Dinge entwickelt sowie Möglichkeiten gefunden, an sie heranzukommen, obwohl er früher nur ein einfacher Hafenarbeiter gewesen war. Wenn er in ein paar Monaten der Erste Herrscher der Sonne sein würde, konnte er sich auf noch großartigere Leckereien freuen. Die Küche im Palast von Jierna Tal wurde als die beste auf der ganzen Welt angesehen.
Die Pracht des Sonnenuntergangs über der sorboldischen Wüste ließ niemanden kalt, selbst wenn man ein so konzentrierter Mann wie Talquist war. Die Luft, die sonst so dünn und trocken war, dass sie Nasenbluten verursachte, wurde nun süßer und feuchter, als ob sie die Sonne dazu verführen wolle, am Morgen zurückzukehren. Der Wind hatte sich gelegt, und die Luft war klar. Das Firmament verdunkelte sich im Osten zu samtigem Blau, und winzige Sterne schimmerten durch den wolkenlosen Schleier der Nacht. Im Westen tanzten wirbelnde Farben. Feuriges Rot wurde zu sanftem Rosa und schloss sich um eine brennende Kugel aus rotorangefarbenen Flammen, die langsam hinter den fernen Bergen versank.
Talquist seufzte. In diesem Land liegt eine so große Schönheit, dachte er, während unbändiger Stolz auf seine Nation in ihm aufstieg. Es ist ein raues Land, so trocken, ein bedrohliches Reich der endlosen Sonne, doch seine Pracht ist unleugbar.
Das Hufgeklapper seiner Eskorte von fünfzig Mann riss ihn aus den Gedanken. Talquist griff nach der Streichholzschachtel aus Platin, holte ein Zündholz heraus und entzündete die Duftöllampe auf seinem Tisch. Ein schwaches Glimmen setzte ein, dehnte sich aus und brachte der tiefer werdenden Dunkelheit des samtigen Wageninneren warmes Licht.
Noch drei Tage, bis wir Jierna Tal erreicht haben, dachte Talquist. Sein Blick kehrte zu dem aufgeschlagenen Hauptbuch vor ihm zurück. Dieser Gedanke erregte ihn. Er wollte nach so langer, arbeitsreicher Zeit an der Westküste rasch in den großen Palast mit den vielen Zinnen tief in den Bergen des inneren Sorbold zurückkehren. Ein bedauerlicher Unfall bei der Befragung der Waage hatte Ihvarr, den Herrscher der östlichen Gilden und Talquists Freund, Geschäftspartner und einzigen ernsthaften Konkurrenten das Leben gekostet. Talquist hatte sofort Ihvarrs Organisation aus Minenarbeitern, Fuhrmännern, Händlern und Lageristen übernommen, die eingehende Aufsicht und Überwachung erforderte; seine eigenen Seehandelsgeschäfte bedurften dessen sogar noch mehr. Doch die schwere Arbeitslast machte ihm nichts aus, denn Talquist war ein ehrgeiziger Mann.
Der Klang eines Pferdes, das sich seinem Wagen von der Seite näherte, lenkte seine Aufmerksamkeit von den Büchern ab. Talquist schaute aus dem Fenster und erkannte einen seiner Späher, der dem Wagen das Signal gab, langsamer zu werden.
»Haltet an«, befahl er, während er sich aus dem Fenster lehnte. Dann rief er dem Späher zu:
»Was ist los?«
Der Soldat, der die Uniform des Herrschers trug, zügelte sein Pferd ebenfalls.
»Herr, vor uns nähert sich eine Karawane aus vier Wagen dem Bergpass.«
»Ja, und?«
»Sie scheinen nur bei Dunkelheit zu reisen, um nicht entdeckt zu werden. Die Wagen sind voller Gefangener.«
Talquist lehnte sich noch weiter aus dem Fenster und zog die Brauen unwillig zusammen.
»Gefangene?«
»Ja, Herr. Sie sind gefesselt und haben Binden über den Augen. Möglicherweise sind sie im Süden an der Skelettküste gelandet.«
Talquist nickte wütend. Der Sklavenhandel in Sorbold war sprunghaft gestiegen. Der Verkauf menschlicher Gefangener an die Minen und Felder nahm seit dem Tod der Kaiserin der Dunklen Erde stetig zu, wobei das Ableben der Herrscherin zu seiner eigenen Thronbesteigung geführt hatte. Abtrünnige Sklavenhändler, die Dörfer oder Karawanen angriffen und ihre Gefangenen zu Feldarbeit zwangen oder sie verkauften, waren für Talquist inzwischen eines der größten Ärgernisse.
»Wohin sind sie unterwegs?«, fragte er.
Der Soldat zog seinen Helm aus und schüttelte den Schweiß davon ab. »Ihrer Route nach zu urteilen, würde ich sagen, zu den Olivenhainen von Baltar«, meinte er.
»Fangt sie ab. Leitet meinen Wagen um«, befahl Talquist. »Ich will sehen, wer Sklaven in mein Reich schmuggelt, und dem persönlich ein Ende setzen. Ich werde mich hier im Wagen verstecken. Sag dem Kutscher, er soll so schnell wie möglich fahren.«