»Ja, Herr.«
Talquist zog die Blende herunter und löschte das Licht. Er kochte vor Wut.
Evrit rieb mit der Zunge über die Innenseite der Wangen in der nutzlosen Hoffnung, dadurch Speichel erzeugen zu können.
Fünf Tage in Fesseln und mit einer Binde vor den Augen hatten ihn empfänglicher für die Dinge in seiner Umgebung gemacht: für die kühlende Luft bei anbrechender Nacht, für den Gestank im Wagen und für das Ächzen, Schmerzesjammern und Angstheulen seiner Mitgefangenen, besonders seiner jungen Söhne, deren Stimmen er auch dann erkannte, wenn kein Wort gesprochen wurde. Er versuchte ein Lebenszeichen von seiner Frau zu erhaschen, die sich stark gewehrt hatte und in einen anderen Wagen geworfen worden war, doch das endlose Hufgetrappel und das Knirschen und Ächzen der Wagen machten dies unmöglich.
Selac, der jüngere seiner zwei Söhne, gab schon seit Stunden keinen Laut mehr von sich. Jedes Mal wenn der Lärm im Wagen weniger wurde, hatte Evrit mit krächzender, kaum mehr verständlicher Stimme nach ihm gerufen, aber keine Antwort erhalten. Er betete, dass der Junge nur eingeschlafen oder bewusstlos geworden war, weil er Gestank und Durst nicht mehr ertragen hatte, konnte jedoch den dumpfen Laut nicht überhören, der immer dann ertönte, wenn die Wagen langsamer wurden und die tägliche Versorgung der Gefangenen mit Nahrung und Wasser erfolgte. Er hatte fünf solcher Geräusche gehört. Der peitschende Sand des Wüstenwindes stach ihm in die Haut und diente als Ersatz für die Angsttränen, die wegen des Wassermangels und der Augenbinde nicht fließen konnten.
Immer wieder verfluchte er sich dafür, dass er so dumm gewesen war, die Seereise nach Golgarn anzutreten. Er war der Führer der Expedition gewesen; er und seine Passagiere auf der Freiheit hatten ihre Abreise so eingerichtet, dass sie vor dem letzten der südlichen Sommerwinde segeln konnten, bevor der Herbst die Strömung vor der Skelettküste lebensgefährlich machte. Sie waren in See gestochen, weil sie hofften, in Golgarn werde ihre religiöse Sekte geduldet werden, denn dieser Staat hing keinem besonderen Glauben an. Sie hatten den Untergang ihres Schiffes überlebt, doch dann waren sie von den Leuten, die ihnen an Land geholfen und die sie als ihre Retter angesehen hatten, gefangen genommen worden.
Ihre Kaperer waren nicht in allen Belangen herzlos mit ihnen umgegangen. Keine Frau war vergewaltigt worden, und soweit er wusste, hatte es keine Misshandlungen und Schläge gegeben. Ihnen waren die Augen verbunden worden, und man hatte sie gefesselt, nachdem sie Wasser und Nahrung erhalten hatten. Dann hatten sie sich erleichtern dürfen. Aber die Härte des Sommers in der Wüste, der raue Transport und die allgemeinen Umstände machten ihr gemeinsames Elend nur noch schlimmer. Der Anführer der Sklavenhändler hatte ihnen versprochen, dass sie nach zwei Olivenernten ihre Freiheit wiedererlangen konnten, falls sie pflichtgetreu und gut arbeiteten. Evrit war nicht dumm genug, den Worten eines Sklaventreibers zu glauben, doch wenigstens hatten die Frauen und Kinder daraufhin Hoffnung gefasst. Seit ihr Schiff auf dem Weg nach Golgarn vom Kurs abgekommen und auf eines der gefährlichen Riffe vor der Skelettküste gelaufen war, hatte Evrit geglaubt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der Tod seine Familie holen werde. Ihre Rettung hatte sich in der Tat nicht unbedingt als besser erwiesen.
Aus der Ferne hörte er ein Hörn schmettern – einmal, lange, anhaltend, dann noch einmal und dreimal kurz. Evrit spürte, wie die Männer im Wagen sich aufrichteten oder versteiften. Sie hatten es ebenfalls gehört.
Die Kaperer riefen sich etwas zu; sie redeten in einer Sprache, die er nicht verstand. Panik lag in ihren Stimmen.
»Was ... ist los?«, murmelte der Mann neben ihm.
Der Boden unter dem Wagen erzitterte. Evrit erkannte das Geräusch.
»Pferde«, flüsterte er. »Viele Pferde.«
Die Wagen wurden langsamer; das Knirschen machte dem Lärm von donnernden Hufen Platz, die von der sandigen Straße gedämpft wurden.
Einer der Gefangenen betete laut; andere fielen leise ein, als die Erschütterungen durch die herankommenden Pferde ihnen den Wüstenstaub gegen die Haut trieben.
Evrit versuchte den Mahlstrom von Geräuschen zu unterscheiden. Anscheinend hatten einige der Sklaventreiber fliehen wollen. Sie hatten die Wagen verlassen und waren fortgeritten, doch sie waren rasch von anderen, ihnen zahlenmäßig überlegenen Reitern wieder eingefangen worden. Dem Lärm nach zu urteilen, waren die Wagen umzingelt, und an den gebrüllten Befehlen erkannte er, dass sie sich in der Obhut einer Militäreinheit befanden, auch wenn nicht klar war, um welche es sich handelte.
Nach langer Zeit des Lärms und der Verwirrung hörte er schließlich einen Wagen neben den Karren anhalten und eine Tür sich unter strengem Protokoll öffnen. Er lauschte angestrengt und versuchte einige Worte zu verstehen, doch auch sie stammten aus einer Sprache, die er nicht kannte.
Auf ein Kommando sprang jemand in den Wagen, der dabei heftig erzitterte. Einige Herzschläge später spürte er, wie Hände sanft seine Augenbinde entfernten.
Zuerst glaubte er, das Augenlicht verloren zu haben. Als er von der Binde befreit war, blieb die Welt um ihn herum trotzdem dunkel, doch bald hatte er sich an die Finsternis gewöhnt und erkannte einen Soldaten in roter Stoffuniform mit Lederstreifen darauf, der auch den anderen Gefangenen die Binden abnahm.
Evrit schaute sich rasch und verzweifelt um und erhaschte einen Blick auf seinen ältesten Sohn, der ihn wild anstarrte. Er nickte aufmunternd und sah dann hinter sich.
In der Mitte der vier Wagen stand ein untersetzter Mann, der in weite weiße Roben gekleidet war und eine schwere Halskette aus Gold trug. Die Roben waren mit den Symbolen des Schwertes und der Sonne bestickt. Er gab Anweisungen an die berittenen Soldaten, die offenbar eine ganze Kohorte stark waren und die gleiche Hautfarbe und Gestalt wie ihr Anführer hatten. Einige ritten zwischen die Wagen, während andere die Gefangenen befreiten und Wasser herumreichten.
Jemand bot ihm einen Weinschlauch an, und er trank dankbar mit noch gebundenen Händen, dann schaute er sich nach Selac um und entdeckte ihn in einem der anderen Wagen. Evrit neigte den Kopf vor Erleichterung und flüsterte ein Dankgebet für ihre Errettung.
Schließlich winkte der Mann in der Robe den Soldaten, mit dem er gesprochen hatte, fort, drehte sich um und redete die Gefangenen in der allgemein verständlichen Sprache der Seehandelsleute an.
»Ich bin Talquist, Herrscher über Sorbold und designierter Kaiser. Ich heiße euch in meinem Land willkommen und entschuldige mich für alle Misshandlungen, die ihr durch die Hände meiner Untertanen erleiden musstet. Der Anführer wurde bereits hingerichtet, und der Rest dieser abtrünnigen Sklavenhalter befindet sich nun im Gewahrsam meines Heeres.«
Evrit seufzte erleichtert und schenkte seinen beiden Söhnen ein aufmunterndes Lächeln.
»Ihr werdet nun in meiner Karawane Weiterreisen, damit meine Soldaten euch beschützen können«, fuhr der Herrscher fort. »Bald werdet ihr alle von euren Augenbinden befreit sein, falls ihr es noch nicht seid. Wenn jemand Wasser braucht, möge er das bitte dem Soldaten sagen, der für seinen Wagen zuständig ist. Wer ist euer Anführer?«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann hatte Evrit die Stimme wieder gefunden.
»Unsere ... unsere Expedition hat keinen richtigen Führer, Herr«, sagte er mit brechender Stimme. »Aber ich habe die Ladepapiere unterschrieben, als wir auf der Freiheit die Segel gesetzt haben.«
Der Herrscher drehte sich nach ihm um und kam zu ihm herüber, wobei er freundlich lächelte.
»Die Freiheit, sagst du? Ein feines Schiff. Ich habe oft Fracht auf ihr befördern lassen. Ist sie gesunken?«
»Ja, Herr, es tut mir Leid, das sagen zu müssen. Sie ist auf ein Riff gelaufen. Wir sind bei der Skelettküste an Land gekommen, wurden aber von den Männern gefangen genommen, die Ihr überwältigt habt.«