Dranth hob den Blick von der neuen Tischplatte. Im schwachen Licht der Gildenhalle standen etwa sechzig weitere Diebe in den Schatten und warteten auf ihre Befehle.
Als seine Stimme sich endlich bis zum Mund vorgekämpft hatte, klang sie sanft, entschlossen, tödlich.
»Die Gildenmeisterin ist zum Hof des Bolg-Königs gegangen, um Rache für altes Unrecht zu suchen«, sagte er. Seine Augen funkelten im Feuer des Kamins hinter ihm. »Von diesem Hof kam das Päckchen, das ... Esten hat diese Gilde mit ihrer Hände Arbeit und ihrem eigenen Blut aufgebaut. Jeder, der es wagt, dieses Blut zu vergießen, muss sich vor der Gilde verantworten.«
Ein leiser Stimmenchor setzte ein, murmelte Zustimmung und verstummte wieder.
»Der Bolg-König hat sich unsere ewige Feindschaft erworben, und er wird sie zu spüren bekommen. Doch jeder, der stark genug ist, um Esten zu töten, wird weder durch einen gewöhnlichen Angriff noch durch die Art von Mord, die wir im Schatten ausüben, verwundbar sein.« Auch er verfiel nun in Schweigen.
»Was denn, Dranth?«, fragte schließlich einer der Gesellen.
Dranth starrte ins Feuer. Er beobachtete die Flammen vor dem Ruß, der die Ziegel an der Rückwand des Kamins sprenkelte, und ließ seine Gedanken mit ihnen fliegen. Schließlich wandte er sich wieder an die Gilde.
»Wir werden seine Feinde unterstützen«, sagte er nur. »Vor ihrem Tod hat die Gildenmeisterin uns genaue Pläne und Karten seines Reichs geschickt sowie Einzelheiten über Vorräte, Bewaffnung, Schätze und Menschenmaterial. Diese Informationen sind für jeden, der ihn besiegen will und das Heer dazu hat, von unschätzbarem Wert.«
Er warf das Kristallglas in den Kamin.
»Es gibt eine Menge solcher Männer«, sagte der Kronprinz. »Aber ich glaube, ich werde zuerst in Sorbold nachforschen. Es liegt an Ylorcs südwestlicher Grenze und hat einen neuen Herrscher. Wie ich gehört habe, war er selbst einmal ein Gildenherr.« Dranths Augen blitzten. »Und wie die Herrin immer gesagt hat, weiß jeder Gildenmann um den Wert der angebotenen Waren. Wir müssen in ihm nur den überwältigenden Wunsch entfachen, sie haben zu wollen, ob er sie braucht oder nicht.
Also werden wir sie zu einem Preis anbieten, dem er nicht widerstehen kann.«
Die riesenhaften Portale des Eisschlosses waren zur Unkenntlichkeit zugefroren.
Die Drachin starrte auf den Eingang; ihr Körper wurde wegen des allmählichen Wärmeverlustes immer langsamer. Schnee bedeckte nun ihre Mammutklauen und häufte sich zwischen den Knochen auf, die früher einmal ihre Finger gewesen waren. Die Gelenke verhärteten sich bei jedem schmerzhaften Schritt. Auf den Lidern hatte sich eine stechende Eiskruste gebildet, und die Haut schälte sich unter dem Gewicht des Eises auf den Schuppen.
Das Leben, das nach so langer Zeit im Grab zu ihr zurückgekehrt war, verebbte nun wieder.
Öffnet euch, flüsterte sie. Bitte öffnet euch.
Ihr Drachensinn, der zusammen mit ihrer Lebenskraft dahinschwand, spürte eine Regung in den Türen, als ob der Stahl etwas in ihr erkannt hätte, aber zu schwach oder zu unwillig wäre, um darauf zu antworten. Tief in ihr, in jenem Teil, in dem noch ihr stahlharter und hochmütiger Wille hauste, schmerzte die Weigerung der Tore.
Der Zorn über die Abfuhr entzündete sich und raste wie ein Buschfeuer durch sie hindurch.
»Öffnet euch«, sagte sie nun lauter und mit festerer Stimme. Sie drang eher aus ihrem Kopf und ihren Eingeweiden als aus der Kehle. Drachen hatten keine Stimmbänder und mussten daher das Element der Luft manipulieren, um wie die Menschen reden zu können – in einer Stimme, die man sogar durch das Heulen eines Herbststurmes hören konnte.
Vor ihr schienen sich die gigantischen Eisscheiben ein wenig zu glätten. Der Spalt zwischen ihnen erzitterte; die Türen bebten, blieben aber geschlossen.
Auch die Bestie zitterte, aber vor Wut. Voll entzündete und alles umfassende Wut erhitzte ihr Blut, und der Zorn strömte aus ihr heraus und zerschmolz lockere Schneebretter in der Ferne, die polternd in den Abgrund stürzten.
»Öffnet euch!«, heulte sie. Der Wind kreischte mit ihrer Stimme. »Ich befehle es!«
Das Eis, das die Tore seit drei Jahren ungestört bedeckte, brach auf und fiel in großen, sich biegenden Platten ab. Lawinen schlugen auf die gefrorenen Steine des Vorhofes. Die Augen der Drachin brannten hell vor Wut. Sie holte tief Luft und stieß sie mit ihrer ganzen Wut wieder aus.
Der Blitz aus ätzendem Feuer, dessen Quelle der Schwefel in ihrem Bauch war, blendete sie beinahe mit seinem grellen Licht.
Die kochende Atemwelle sprengte die gefrorenen Türen und schmolz das Eis und den Schnee, der die Wände überzog. Ströme aus flüssigem Dampf stürzten wie Wasserfälle herab, als sich auch die unterste Eisschicht nach einem weiteren Schlag des dreikammerigen Herzens verflüchtigte und hohe Platten aus Metall enthüllte. Langsam schwangen die Palasttüren auf.
Die Bestie schaute keuchend und triumphierend zu, als das kalte Innere des Palastes zum Vorschein kam. Ich habe zwar meine Erinnerungen noch nicht zurück, dachte sie, während sie beobachtete, wie das geschmolzene Eis zu glimmenden Bändern erstarrte, aber ich entsinne mich, dass dieser Ort mir gehört. Und alles, was mir gehört, muss sich vor mir verneigen.
Sie beachtete die Schmerzen in ihren Gliedern nicht, sondern kroch weiter voran und zog ihren stechenden Körper durch die gewaltige Türöffnung und auf den kalten Steinboden dahinter.
Leise schlössen sich die großen Türen wieder.
Die höhlenartige Halle erbebte unter dem Klang von Metall auf Stein, als sich die Bestie über den Boden zu der riesigen Haupthalle schleppte und dabei mit den Klauen über den Granit schabte.
Vor ihr in der Haupthalle befand sich ein großer Kamin. Er war schwarz vor lange erkaltetem Ruß. Das Deckengewölbe thronte hoch über ihr. Wenn sie sich zu voller Größe aufrichtete, würde sie es beinahe erreichen. Hinter ihr erlaubten hohe, mit einer dicken Eisschicht überzogene Fenster den Einfall gedämpften Lichts. Ihr Drachensinn, der in ihr so verwurzelt war wie ihr Augenlicht, ihr Gehör oder Tastsinn, regte sich in ihr. Er hatte in der Kälte geschlafen und schien nun allmählich aufzutauen. Sie wurde sich erst schwach, dann immer stärker der einzelnen Bestandteile des Schlosses bewusst: die drei Türme, die Wendeltreppen, die tiefen, mit Vorräten angefüllten Keller, die nun gefroren waren, da die Feuer in den riesigen Kaminen schon seit Jahren erloschen waren. Sie drehte sich langsam um; es hatte den Anschein, als nehme sie alles um sie herum durch ihre Haut auf.
Mit diesem Ort waren nur wenige Erinnerungen verbunden. Sie hatte allem Anschein nach allein innerhalb dieser gefrorenen Mauern und in diesen leeren Zimmern gelebt. Sie wusste, dass es über und unter ihr Räume gab, die sie wegen ihrer eigenen Größe nie wieder sehen würde. Alle Türen außer denen zu den ausgedehntesten Räumen im Erdgeschoss würden ihr den Zutritt verweigern. Wenigstens gab es hier Schutz vor der endlosen Kälte der blassen Berge.
Ein mächtiges Summen zog ihre Aufmerksamkeit an. Sie drehte den schweren Kopf fort von dem leeren Kamin in Richtung des hohen Fensters. Vor ihm stand ein einfacher Altar aus schwerem, geschnitztem Holz, darauf lag ein angelaufenes Fernglas.
Die Drachin schloss die brennenden Augen.
Auch jetzt konnte sie das Gerät noch sehen, denn seine Macht strahlte durch ihre geschlossenen Lider. Ihre ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, Schwingungen liefen über ihre Haut und passten sich dem Schlag ihres Herzens an.
Erinnere dich, dachte sie verzweifelt. Was ist das?
Sie öffnete die Augen wieder, zog sich über den kalten Steinboden zu dem Altar und schaute angestrengt auf das Fernglas hinab.
In ihrem Kopf wirbelten Bilder umher, Szenen eines wilden Kampfes, verzweifeltes Leiden, Schlachten, Triumphe, Ereignisse von welterschütternder Wichtigkeit und völliger Belanglosigkeit; sie alle buhlten um ihre Aufmerksamkeit, bis ihr der Kopf schwirrte. Verwirrt glitt sie von dem Altar zurück und schirmte ihre Gedanken ab.