Dumpfer und bohrender Schmerz zuckte in ihr auf; er war noch schlimmer als die andauernde Pein ihres verwundeten Körpers. Es packte und schwächte sie, ihr Kopf sank zu Boden. Ihr wurde schwindlig, dann schaute sie wieder auf.
Inmitten all der Verwirrung hörte sie eine klare und deutliche Stimme im Aufruhr ihrer Erinnerungen wie eine Glocke in einem Meeressturm. Es war eine Frau, die jeden Satz überdeutlich aussprach.
Ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit. Deine Handlungen sind nicht mehr im Gleichgewicht. Von nun an wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat. Du wirst nichts mehr über den Herrschaftsbereich deiner Schwestern, die Gegenwart und die Zukunft, sagen können. Niemand wird dich mehr aus einem anderen Grund aufsuchen. Also solltest du dein Wissen besser darbieten, denn sonst wirst du bald vollkommen vergessen sein.
Die große Bestie erbebte.
Im ersten Augenblick wollte sie das Fernglas von dem Altar stoßen und es unter ihrem Gewicht zerschmettern oder es von den Zinnen des Schlosses in die Schluchten schleudern, doch bereits der Gedanke daran bereitete ihr Schmerzen, körperliche Schmerzen, als ob ein Eispickel in ihren Kopf eindränge. In ihrem geringen Wissen war sie sich sicher, dass dieses Gerät älter war als sie selbst und aus einem untergegangenen Land stammte, einem Ort, den die Winde nicht mehr finden konnten und den die Zeit vollkommen vergessen hatte. Sie spürte auch, dass es in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung stand – in bedeutender, beinahe heiliger Weise.
Ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit.
Das Fernglas schimmerte im verdämmernden Licht.
Es sieht die Vergangenheit, dachte die Drachin. Mit diesem Gedanken kam eine neue Gewissheit, als ob er in ihrem Kopf kleine, verborgene Orte geöffnet hätte, die ihr bisher verschlossen gewesen waren. Es sieht die Vergangenheit.
Es kann mich sehen.
Mit dieser Erkenntnis kam eine Welle der Macht, der Wiederbelebung. Die Bestie, die noch immer in ihrer eigenen Lebensgeschichte verloren war, war für die Augen der Zeit nicht länger unsichtbar; sie war nicht mehr allein in der weiten Weiße der endlosen Berge. Irgendwo in der Vergangenheit verbargen sich ihre Erinnerungen und warteten darauf, von ihr entdeckt zu werden.
Und das Fernglas war in der Lage, sie zu sehen.
Die Schmerzen in ihrem Bauch wurden stärker und wurden gefolgt von Schwäche. Hunger, dachte die Drachin. So fühlt sich Hunger an.
Sie kroch zum vereisten Fenster, konnte aber hinter den gefrorenen Scheiben nichts erkennen. Der angeborene Überlebenssinn loderte in ihr auf, und ihr Drachensinn bemerkte alles innerhalb von fünf Meilen, was für sie wichtig sein könnte.
Einzelheiten wurden riesig groß, das winzigste Weizenkorn war für sie so deutlich wie die Sonne. Sie wusste sofort, dass es in den Kellergewölben des Schlosses Nahrung für Menschen gab, doch wenn sie darankommen wollte, musste sie Mauern durchbrechen. So stark war sie im Augenblick nicht. Ihre Sinne richteten sich nach draußen und suchten die Berge und Schluchten ab.
Eineindrittel Meile entfernt flog ein Adler nach Südost mit einer Geschwindigkeit von zweiunddreißig, nein, einunddreißig Knoten. Noch weiter draußen zerstreute sich eine Schar Schneehühner im Wind. Die Drachin verwarf den Gedanken. Sie wusste nicht, ob sie schon in der Lage war zu fliegen. Eine ihrer Schwingen schmerzte, war steif und hing herab, vermutlich das Ergebnis einer Verletzung. Zunächst musste sie am Boden nach Nahrung suchen. Sie konzentrierte sich noch stärker.
Ein Gletscherstrom rann durch ihre Ländereien, wie sie feststellte. Das Wasser war silbergrau und kalt; noch vor wenigen Augenblicken war es uraltes, blaues Eis gewesen, doch nun plätscherte es lustig die gefrorenen Hänge hinab. Vielleicht fand sie dort Nahrung, doch wenig später verwarf sie diesen Gedanken wieder. Der Winter stand vor der Tür; die großen roten und silbernen Fische waren gekommen, hatten gelaicht und waren gestorben. Sie hatten den Zyklus vollendet, der das Leben für sie vorgesehen hatte. Es gab nichts mehr in dem grauen Wasser, das den Hunger der Drachin zu stillen vermocht hätte.
Dann spürte sie etwas anderes am Rande ihres Bewusstseins.
Nahe am Flussufer, unter dem Schutze eines breiten Felsvorsprungs, befand sich ein kleines Jagdlager. Männer. Menschen, dem Geruch nach zu urteilen, den ihr Drachensinn aufnahm.
Zuerst stieß sie dieser Gedanke ab. Sie war einst ein Wesen wie sie gewesen, eine Frau, wenn auch nicht menschlich, denn ihr Blut war viel älter, wie sie annahm. Schwach erinnerte sie sich an Worte, die eine andere Drachin zu ihr gesprochen hatte, die vermutlich verwandt mit ihr gewesen war – ihre Mutter vielleicht. Bitterer und faulig schmeckender Hass stieg ihr bei dieser Erinnerung in den Mund.
Wenn sie in dein Land eindringen, warum isst du sie dann nicht?, hörte sie jemanden mit der Stimme eines Kindes fragen.
Sie essen? Mach dich nicht lächerlich, hatte die andere Drachin gesagt. Es sind Menschen. Man isst keine Menschen, egal, wie sehr sie es auch verdienen mögen.
Warum nicht?
Weil das barbarisch wäre. Menschen haben angeblich Gefühle, auch wenn ich noch keinen Beweis dafür gefunden habe. Man isst keine empfindungsfähigen Wesen. Nein, mein Kind, ich begnüge mich mit Hirschen, Schafen und Gnus. Sie sind gut verdaulich und verursachen keine solchen Schuldgefühle im Magen wie Menschen.
Ich kenne keine Schuldgefühle, dachte die Drachin bitter. Nur Hunger.
Sie gestattete ihrem Drachsinn, sich noch weiter zu erstrecken und näher an das Jagdlager heranzugehen, in dem der Schnee die kleinen Hütten unter dem Vorsprung eingekreist und so eine eisige Barriere zwischen den Menschen und dem Fluss gebildet hatte. Sie hatten einen vier Fuß breiten und sieben Fuß langen Weg zwischen Lager und Fluss gegraben. Mit ihren geistigen Augen sah die Drachin die Fußspuren, die zum Wasserlauf führten, und die Stellen, wo die Eimer ans Ufer gezogen worden waren.
Während ihr Hunger stärker wurde und ihr Drachensinn sich ausdehnte, verengten sich ihre Augen. Sie dachte angestrengt nach.
Ich habe keine solchen Skrupel Menschen gegenüber, meinte sie. Sie sind eine große Fleischquelle, voll warmem Blut und mit dünner Haut. Bestimmt kann man sie schön grillen und gut aufbewahren.
Ich verhungere.
Die Entscheidung war nicht schwer.
Öffnet euch, befahl sie den Türen des Schlosses mit einer Stimme voll blutiger Entschlossenheit. Wie zur Antwort schlugen sie auf. Der eisige Wind blies hinein und wirbelte wütend durch die höhlenartige Halle. Von Hunger und dem Verlangen angetrieben, ihre Schmerzen in Zerstörung umzuwandeln, glitt die Bestie durch das Portal in die Dämmerung, über die Mauern und hinunter in eine Schlucht, wo sie unter dem Schnee in der Erde verschwand.
7
Die Verheerung des Wyrms war ein episches, bebildertes Gedicht aus dem cymrischen Zeitalter, geschrieben auf eine Pergamentrolle, das Achmed nach unzähligen Jahrhunderten tief in den Gewölben der Bibliothek von Canrif gefunden und mit gewisser Belustigung Rhapsody gegeben hatte, bevor sie mit Ashe auf die lange Suche nach der Drachin Elynsynos gegangen war. Der Bolg-König hatte selbstgefällig dagesessen und kaum seine Fröhlichkeit verbergen können, als er ihr ausdrucksstarkes Gesicht beim Lesen des Gedichtes beobachtet hatte; es hatte ausführlich von den mörderischen Taten der Drachin berichtet, zu der sie hatte aufbrechen wollen. Elynsynos, die Drachin, nach welcher der Kontinent benannt war, war dem Schriftstück zufolge älter als die Zeit selbst. In atemberaubenden Einzelheiten erzählte es die Geschichte der uranfänglichen Drachin, die angeblich zwischen einhundert und fünfhundert Fuß lang war und so spitze Zähne wie ein geschmiedetes Bastardschwert hatte. Da alle Drachen etwas von den fünf Elementen besaßen, konnte sie jede Gestalt oder Kraft der Natur wie einen Tornado, eine Flut oder einen Waldbrand annehmen, behauptete das Gedicht. Sie war böse und grausam, und als ihr Geliebter und Vater ihrer drei Töchter, der Seemann Merithyn der Eroberer, nicht wie versprochen zu ihr zurückgekehrt war, geriet sie in schreckliche Wut und tobte durch den westlichen Kontinent, wobei sie die Länder bis zur zentral gelegenen Provinz Bethania mit ihrem beißenden Atem verbrannte. In Bethania selbst entzündete ihr Feuer die ewige Flamme, die noch heute in Vrakna brannte, der dem Element des Feuers geweihten Basilika.