Auf dem Tisch stand ein Zylinder aus Knochenmaterial, der das Siegel des Königs trug. Trug sagte nichts, doch Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Der Wächter deutete auf den Behälter und trat dann aus der windigen Senke.
Trug starrte den Zylinder eine Weile an. Er wusste, dass er etwas enthielt, das einen Wendepunkt in seiner Bestimmung bedeutete. Ihm war genau wie seinen Gefährten schon vor langer Zeit von dem Auftauchen dieser versiegelten Botschaft berichtet worden, und er wusste, was sie darstellte. Entweder handelte es sich bei ihr um seine Verbannung, so wie es bei mindestens einem anderen Archonten-Auszubildenden gewesen war, oder aber um seine Erhebung zum vollwertigen Mitglied. Wie dem auch sei, in dieser Nacht würde zumindest ein Teil seines bisherigen Lebens enden.
Mit klammen Fingern erbrach er das Siegel und öffnete den Zylinder.
Er starrte auf das Blatt und versuchte seine Bedeutung zu begreifen. Es enthielt lediglich den Abdruck einer Hand.
Trug stand auf, hielt den Rand des Pergaments in die Flamme der Lampe und wartete, bis es vollständig verbrannt war. Dann warf er die Asche in den Wind, der über den ausgehöhlten Berggipfel hinwegbrauste. Als das letzte Aschestück in den Aufwind geraten und fortgetragen worden war, löschte Trug die Laterne und eilte in den Berg zurück. Er huschte durch die Dunkelheit hin zu einem Gang in der Tiefe, den er nur allzu gut kannte.
Tief im Innern des Berges, an einer Gabelung von fünf Tunneln, die als die Hand bekannt war, trafen sie sich. Jeder war auf die gleiche Weise gerufen worden.
Als die Archonten eintrafen, nickten sie einander zu, sagten aber nichts. Es war nicht nur üblich, sondern vorgeschrieben, sich still zu verhalten, bis der König oder sein Abgesandter sprach. Achmed wollte sicher sein, dass die Worte in den Ohren der Archonten so rein und von anderen Lauten ungetrübt waren wie möglich, wenn sie sich versammelten.
Die zukünftigen Archonten waren in gewisser Hinsicht Achmeds Kinder, auch wenn keiner von ihnen je das Gesicht des Königs gesehen hatte. Man hatte sie von ihren Klanen getrennt, als er König geworden war. Manche glaubten, sie seien Geiseln, doch sie waren als neuer Klan von den anderen abgesondert worden, und der Bolg-König sowie Grunthor und Rhapsody waren eine Zeit lang gemeinsam mit anderen Personen, die Achmed draußen hatte anwerben können, ihre Lehrer und Eltern gewesen. Grunthor war als der Erzarchont bekannt und verlieh diesem Titel ein Gewicht, das ihn sofort begehrenswert machte.
Ihre Erziehung entsprach Achmeds eigenem Werdegang. Sie wurden zu einem geheimen Zweck unterrichtet; Wissen wurde ihnen als Religion vermittelt, und man brachte ihnen bei, an ihre Fähigkeiten zu glauben, denn ansonsten wäre ihr Volk verdammt.
Keiner von ihnen war älter als achtzehn Sommer.
Sie kamen aus verschiedenen Stämmen, die vor Achmeds Ankunft durch die Zahnfelsen gezogen waren und sowohl ihresgleichen als auch jede andere unglückliche Kreatur gejagt hatten, sei es Mensch oder Tier. Einige waren Abkömmlinge der Klane der Klaue, der kriegerischen Plünderer, die im Grenzland, dem Vorgebirge und der felsigen Steppe gelebt hatten, welche an das Menschenreich von Roland stieß. Andere waren von den Klanen der Eingeweide fortgelockt worden, die tiefer in dem Reich lebten, das sie selbst Ylorc nannten hinter dem Schutzwall der Zahnfelsen in den Waldlichtungen und entvölkerten Städten, die einst das Kernland der cymrischen Bastion gewesen waren. Die möglicherweise wertvollsten waren von den Augen gekommen, jenen Halbmenschen, die am besten an die dünne Luft gewöhnt waren, die Simse und Gipfel der Zahnfelsen durchkletterten und, in Wolken gehüllt, die Welt von oben betrachteten.
Und einige stammten von den Findern ab. Die Finder waren eigentlich kein Klan, sondern eher Abkömmlinge jener unglücklichen Cymrer, die vor tausend Jahren zurückgeblieben oder zurückgelassen worden waren, als die Bolg Canrif überrannt hatten. In ihrem Blut befanden sich noch einige magische Elemente der Langlebigkeit und Elementarkraft, die ihre unbekannten Vorfahren ihnen vermacht hatten, doch bis Achmed kam, hatten sie nicht gewusst, wie sie diese Kräfte nutzen sollten.
Achmed sah sie selten, aber regelmäßig. Er stellte sie auf die Probe und führte sie in neue Richtungen. Sie waren sich über seine Beweggründe nicht sicher, so wie sich die Bäume des Haines nicht sicher waren, ob der Förster sie maß, um sie abzusägen oder um sich zu vergewissern, ob sie sein Gewicht beim Klettern in die Wolken zu tragen vermochten. Zehn von ihnen waren im achten Jahr der Ausbildung übrig geblieben. Einige der Kinder, die zu Achmed gesandt worden waren, hatte er anderen Lektionen unterworfen, eines war verschwunden, eines verbannt worden. Jene, die entlassen worden waren, brauchten nicht länger die Geschichte Rolands und der Cymrer, Weltgeografie und Währungen zu studieren und waren auch nicht mehr der strengen Aufmerksamkeit des Königs unterworfen.
Für sie war es eine angenehme Erleichterung, für ihre Klane eine schreckliche Entehrung.
Jene Archonten, die die Ausbildung überstanden hatten, kamen nun einer nach dem anderen in die schwarzen Tunnel der Hand, wo kein Licht hineinreichte oder herausdrang.
Als Erste war Harran eingetroffen, die Meisterin der Überlieferungen, eine Finderin, die von Rhapsody ausgesucht und von ihr persönlich unterrichtet worden war, bis diese Ylorc verlassen hatte, um über das lirinische Reich Tyrian zu herrschen. Selbst nach bolgischen Maßstäben war Harran dünn. Ihre schattenhafte Gestalt störte die Finsternis am Ende des Tunnels, in den sie sich setzte und wartete, kaum auf.
Wenige Augenblicke später kam Kubila. Seine langen Beine machten ihn zu einem überragenden Läufer und verschafften ihm die Sicherheit, dass er vor den meisten eintraf, die zur Hand reisen mussten, obwohl seine Behausung am weitesten entfernt lag. Er nickte Harran in der Dunkelheit zu, betrat den Finger, in dem sie kauerte, setzte sich vor sie und wartete. Einer nach dem anderen kamen sie: Yen, der Schmied, der die Position des Rüstmeisters bekleidete und für die Herstellung der einzigartigen Waffen verantwortlich war, die in Ylorc gebraucht wurden und sogar schon Handelsgut geworden waren, was ihn zu einem der mächtigsten Männer im Königreich machte; Krinsel, die Hebamme, die von einer langen Reihe geachteter Klanmütter abstammte und sich um die medizinischen Bedürfnisse des Reiches kümmerte; und Dreekak, der Meister der Tunnel, der brillante junge Baumeister, der die hunderte von Meilen unterirdischer Passagen und Gebäude überprüfte und erneuerte, die vor tausend Jahren von den Cymrern erbaut worden waren. Überdies hatte er eine große Zahl von Anlagen restauriert, die Gwylliam erfunden hatte, um das Leben in den Berghöhlen zivilisierter zu machen. Der so genannte Kessel, die große Stadt innerhalb des Wachtgebirges, besaß nun eine funktionierende Luftumwälzung, Wasserversorgung und ein Bewässerungssystem. Wärme und Luft wurden eingeleitet, Regenwasser diente zum Trinken und Kochen, und die Kanalisation führte in große Zisternen am Fuß einer unbewohnten Gebirgsschlucht, während die Abfälle früher überall herumgelegen hatten. In diesen Dingen waren die Bolg wesentlich weiter fortgeschritten und zivilisiert als ihre Nachbarn des Menschenlandes von Roland, dessen Bewohner sie lange verächtlich als Ungeheuer abgetan hatten.
Bis zur Ankunft König Achmeds, des Erdenverschlingers, des Vertilgenden Auges, des Nachtmannes, des Kriegsherrn des gesamten unterirdischen Reiches, war das auch richtig gewesen. Doch er hatte umfassende Änderungen vorgenommen und die Bolg so geformt wie Trug: zu etwas Größerem und zu einem höheren, wenn auch unbekannten Ziel.
Bei der Ankunft von Vrith, dem Quartiermeister, setzte ein Wispern ein. Seine Pflichten umfassten das Inventar und die Versorgung des gesamten Königreiches und insbesondere des Bolg-Heeres. Vrith hatte von Geburt an einen Klumpfuß, weshalb er an seinem zehnten Geburtstag auf dem Gipfel des Kurmen zum Sterben ausgesetzt worden war. Rhapsody hatte ihn gerettet und rasch seine Übergenauigkeit sowie sein beeindruckendes Gefühl für Zahlen bemerkt. Daher hatte sie ihn dazu ausgebildet, Ylorcs Vorräte zu überwachen, während das Königreich von einem losen Zusammenschluss von Plünderern zu einem Staatsgebilde überging, dessen Heer gefürchtet, dessen Führer geachtet und dessen Güter begehrt waren.