Zum ersten Mal in dieser Nacht kicherte Grunthor.
»Ja, und wenn ihr unbedingt wissen wollt, wie’s ist, einer von denen zu sein, kann ich euch das halbe Hirn rausschnippeln und zum Leben nach Roland schicken. Will jemand?«
Das heftige Kopfschütteln erzeugte eine kleine Staubwolke in den fest gefügten Korridoren der Hand. Als Achmed von der Hand zurückkehrte, stellte er fest, dass ein nervöser Bote auf ihn in der Großen Halle wartete.
Ungeduldig streckte Achmed ihm die Hand entgegen. Es war ein Knabe, noch jünger als Trug, der ihm rasch einen Elfenbeinzylinder von der Postkarawane übergab. Achmed brach das Siegel auf, und da die Nachricht von Haguefort kam, zog er das Pergament zwischen Nase und Lippen über das verhüllte Gesicht. Rhapsodys Geruch haftete noch daran, es war das frische Aroma von Vanille und Gewürzseife. Der Duft gefiel ihm, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte.
Statt Myrrhe und Ambra, die bei anderen Königinnen und Monarchen so beliebt waren, benutzte Rhapsody dieselben süßen Gewürze, mit denen sie sich als Bauernmädchen auf der anderen Seite der Zeit zu reinigen gepflegt hatte. Es war tröstlich zu wissen, dass wenigstens einige Dinge sich nicht geändert hatten, seit sie den Titel einer Herrin der Cymrer trug und zu Ashes Gemahlin geworden war.
»Was von der Herzogin?«, wollte Grunthor wissen.
Achmed nickte. »Nur eine Nachricht, dass ich in den nächsten Tagen nach einem Botenvogel Ausschau halten soll.«
Der Sergeant-Major stieß einen leisen Pfiff aus und langte in den Patronengurt, der ihm über den Rücken hing. Die Griffe seiner geschätzten Waffensammlung, die wie die Stacheln eines schrecklichen Reptils hervorstachen, klapperten, als er nach einer Klinge suchte, mit der er spielen konnte. Er entschied sich für das Alte Luder, ein gezahntes Kurzschwert, das er zu Ehren einer Hure aus der alten Welt so genannt hatte, und zog die Waffe, wobei er sie an seiner Handfläche entlanglaufen ließ.
»Klingt so, als sähen wir sie bald wieder. Gut. Hab sie vermisst.«
Der Bolg-König seufzte. »Hoffen wir, dass sie nicht schon wieder gerettet werden muss. Sie hasste es noch mehr als ich, wenn das überhaupt möglich ist. Aber ich kann mich jetzt nicht mit ihr und ihren Wünschen abgeben. Ich muss ein zertrümmertes Königreich wieder aufbauen.«
9
Während der Reise auf dem Wagen nach Bethania lag Faron in gnädiger Bewusstlosigkeit.
Der unverständige Geist der Kreatur, der bestenfalls primitiv genannt werden konnte, sank in einen nahezu besinnungslosen Zustand; er weilte in einem nebeligen Reich, in dem halb geformte Träume und Bilder in Bruchstücken auftauchten und von den Spritzern lauwarmen Wassers vertrieben wurden, welches die Fischer immer wieder auf seinem Körper verteilten, der unter der heißen Sonne aufzischte. Faron lag unter Seetang, mit dem die beiden Männer seinen bleichen Körper bedeckt hatten. Er wünschte den Tod herbei, wenn er bei Bewusstsein war, und glitt durch Nachtmahre, wenn er es nicht war. Dabei verbrannte er allmählich in der Sonne.
Nach scheinbar endloser Zeit kam der Wagen langsam zum Stehen und zeigte keine Anzeichen, weiterzufahren. Kail kletterte aus dem Wagen und reckte sich qualvoll. Er beschirmte die Augen und schaute auf die von Mauern umgebene Hauptstadt Bethanias und ihren äußeren Ring aus Dörfern und Siedlungen; sodann deutete er in die Tiefen der Stadt auf die Geschäfte und Hütten und den quirligen Fußverkehr, der auf den Straßen herrschte.
»Der Kesselflicker hat gesagt, der Knabe, der für das Monstrositätenkabinett verantwortlich sei, befinde sich in der Gasse hinter der Taverne Zum Adlerauge«, sagte er zu Bächlin, der sich ebenfalls streckte und nickte. »Du gehst in die Stadt und verkaufst unseren Fang an den Fischhändler, und ich gehe in den äußeren Kreis und sehe mal, was ich für unseren Fischjungen bekomme.« Bächlin nickte und gab dem Pferd ein schnalzendes Zeichen. Kail sah zu, wie der Wagen auf das westliche Tor zurollte. Es war eine der beiden Öffnungen, durch die Handelsvieh und Kaufmannsverkehr in die Stadt gelangen konnten. Der Zutritt war streng begrenzt, und deshalb fand ein großer Teil des Handels, der nicht mit den Gesetzen übereinstimmte, vor der Ringmauer in den äußeren Dörfern und Siedlungen statt.
Dorthin ging er nun und suchte das Adlerauge und die Straße dahinter.
Kail war kein Fremder hier. Er kannte solche Orte in ganz Roland und verkaufte seine Waren gern in solchen Randsiedlungen. Auch gab er bevorzugt sein Geld hier aus. Die Gewinnspannen waren höher und die Angebote billiger. Außerdem gab es hier eine Menge Dinge, die kein Kaufmann aus der Stadt, der etwas auf sich hielt, je in die Hand nehmen würde.
Auf der Straße nach Bethania waren sie vielen anderen kleinen Kaufleuten begegnet und hatten immer wieder gefragt, ob jemand den Wanderzirkus gesehen habe, der noch vor wenigen Wochen an der Küste aufgetreten sei. Schließlich hatte ihnen ein Kesselflicker inmitten seiner klappernden, vom Wagen herabhängenden Töpfe und Pfannen verraten, dass der Wanderzirkus nach Bethania gereist sei und auf den düsteren Straßen außerhalb der Stadtmauer seine Kunst mehr schlecht als recht zur Schau stelle.
Außerdem hatte er eine Wegbeschreibung zu der Taverne gegeben.
Kail ging über die gepflasterten Straßen, an kleinen Läden, Tavernen und Wohnhäusern vorbei und sog den Anblick und die Gerüche des Ortes in sich ein: das Gackern der Hühner beim Geflügelschlächter, das fröhliche, kreischende Lachen der Straßenkinder, das Feilschen der alten Frauen auf dem Markt, der appetitliche Geruch von Essen, der aus den Gasthäusern drang. Kail war hungrig und wollte es auch bleiben, bis er sein Geschäft abgeschlossen hatte. Das würde sicherstellen, dass er bei den Verhandlungen hart blieb.
Schließlich kam er zu dem Ort, den der Kesselflicker ihm genannt hatte. Das Adlerauge war ein schäbiges, dringend reparaturbedürftiges Gebäude und stand mit der Fassade zu einer dunklen Straße hin, die als Bettlerallee bekannt war. Kail schlüpfte in die Gasse, die zur Rückseite des Gebäudes führte, und folgte dem geschäftigen Lärm in den Hintergassen.
Eine kleine Gruppe Männer hatte sich mit einer einfach gekleideten Frau und einigen Jungen in einem Kreis um einen stämmigen, kahlköpfigen Mann versammelt, der grob genagelte Stiefel und eine Peitsche trug, die ihm von der Schulter bis zur Hüfte reichte. Er führte etwas an einer Kette, das auf der schmutzigen Straße herumhüpfte, brummte und heulte. Kail kam näher heran, um einen besseren Blick zu bekommen.
Sobald er in den Kreis getreten war, sah er, dass die Kreatur am Ende der Kette ein Mensch oder wenigstens menschenähnlich war. Sie war bis hoch zu den Augenlidern völlig mit Haaren bedeckt und ging wie ein Affe auf den Fingerknöcheln umher. Immer wieder sprang das Geschöpf die Menge an, die voller Belustigung und Schreck zugleich vor ihm zurückwich. Der große Mann zerrte das haarige Wesen an der Kette zurück und schrie es mit drohender Stimme an. Kail verzog angewidert die Lippen.
Der muskulöse Mann bemerkte seinen offensichtlichen Abscheu. Er warf dem Fischer einen finsteren Blick zu, lockerte die Kette ein wenig und nickte in Kails Richtung. Das haarige Geschöpf sprang auf den Fischer zu, kratzte ihn am Bein und kletterte ihm in irrer Wut bis zur Hüfte hinauf. Es hatte bereits seine Kleidung besabbert, als der Mann an der Kette zog und es wieder auf den Boden zwang. Die anderen Zuschauer wichen hastig vor Kail zurück. Der Fischer blieb standhaft. Er durchbohrte den Bändiger mit Blicken, bewegte sich aber nicht.
»Also gut, wer will eine Eintrittskarte haben?«
Die Stimme war hinter Kail ertönt. Er starrte immer noch den Bändiger nieder, während sich die anderen fortbewegten. Er hörte den Klang von Münzen und eine Wegbeschreibung zu einem Ort am Rande der Stadt. Als sich die Zuschauer schließlich zerstreut hatten, stellte sich der Kartenverkäufer neben den Bändiger. Er war groß und dünn und trug einen schmalen schwarzen Bart, der seine Wangen einrahmte. Gekleidet war er in eine farbenprächtige, rot und golden gestreifte Seidenhose und eine grüne Weste; dazu trug er einen hohen schwarzen Hut.