Stämmige Wachen, welche die gleiche Kleidung wie der Bändiger trugen, den er in der Bettlerallee gesehen hatte, standen in gleichmäßigen Abständen um das Zirkuszelt. Der Kartenabreißer, ein Buckliger mit einer Hasenscharte, wartete beim Eingang und sammelte sorgsam die Pergamentstücke aus Fischhaut ein, die der Zirkusdirektor den Neugierigen in der Allee verkauft hatte. Solche Zirkusse arbeiteten oft ausschließlich mit vorverkauften Eintrittskarten, damit kein Bargeld vorhanden war, falls die Obrigkeit oder Räuber erschienen, um sie zu schließen oder auszurauben. Der Bucklige scheuchte zwei Jungen fort, und einen Augenblick später war eine der Wachen bei ihnen und knurrte sie an.
»Ihr könnt morgen wiederkomm!«, rief ihnen der Bucklige hinterher. »Wir sin noch zwei Tage hier!«
Bächlin schirmte die Augen vor dem Fackellicht ab und sah sich um. »Hier wartet keiner auf uns«, sagte er nervös. Er gab seinem Pferd, das angespannt im Fackelschein tänzelte, einen geschnalzten Befehl.
Kail nickte ihm zu. Niemand erwartete sie vor dem Zeltring.
»Ich gehe rein und suche nach ihm«, erbot sich Bächlin.
Der andere Fischer lachte. »Ich hatte vergessen, dass du eine Vorliebe für so etwas hast«, sagte er, suchte noch einmal die Umgebung ab, entdeckte aber kein Zeichen vom Zirkusdirektor. »Wir sollten ihm nicht auf seinem eigenen krummen Boden gegenübertreten. Ein solcher Ort ist schließlich die Heimstatt von Ungeheuern.«
»Wie sollen wir denn mit ihm sprechen?«
»Wir bringen ihn dazu, zu uns hinauszukommen.«
Bächlin kratzte sich verwirrt am Kopf. »Und was ist, wenn er nicht rauskommen will?«, fragte er aufgeregt und beobachtete die Menge, die nun durch das Tor eingelassen wurde.
»Ich verspreche dir, dass er kommen wird«, sagte Kail zuversichtlich.
Er sprang vom Wagen und zog die Abdeckung aus Öltuch zurück. Das Geschöpf zwischen dem Seetang zischte ihn an. In seinen Augen glühte der Hass.
»Da bist du ja, Kerlchen. Bleib bloß ruhig«, sagte er und schenkte dem vernichtenden Blick der Kreatur keine Beachtung, als sie versuchte, mit ihren gebogenen Gliedern nach ihm zu greifen.
Er zog das Öltuch wieder über das Geschöpf, stellte sich im Wagen auf, räusperte sich und rief mit der Stimme eines Marktschreiers, die er sich als Fischhändler im Hafen erworben hatte:
»Kommt herbei, Ihr Damen und Herren, kommt alle und seht den Wundersamen Fischjungen! Ein schrecklicheres Ungeheuer werdet Ihr in dem Kabinett, für das Ihr schon bezahlt habt, nicht finden. Und noch besser: Hier kostet es Euch nichts!«
Die Menge, die in das Monstrositätenkabinett strömte, ging an ihm vorbei, und nur wenige schauten in seine Richtung.
Kail versuchte es erneut. »Kommt, wenn Ihr Euch traut, und schaut in das Antlitz eines wahren Ungeheuers! Kommt und werft einen Blick auf ein Wesen, das halb Mann, halb Frau und halb Fisch ist!«
Einige Männer wurden langsamer, doch ansonsten beachtete ihn die Menge nicht weiter, sondern eilte auf die Zelte zu.
Kail ließ sich indes nicht entmutigen. Er sprach eine schwergewichtige Frau an, die mit ihrem rotköpfigen Gemahl, dessen Brustkorb so mächtig war wie ein Fass, an ihm vorbeischlenderte.
»Ihr, meine Dame! Ihr scheint mir eine tapfere Seele zu sein. Wollt Ihr die Erste sein, die ein wirkliches Ungeheuer sieht? Etwas, das so schrecklich ist, dass sogar der Zirkusdirektor des Monstrositätenkabinetts Angst hat, herauszukommen und es sich anzuschauen?«
Die Frau blieb gebannt stehen und zupfte ihren Gemahl am Ärmel. Der Mann schüttelte missbilligend den Kopf, aber sie wollte nicht weitergehen.
»Ach, komm doch, Percy, er hat mich auserwählt! Ich will die Erste sein!«, quakte sie. »Bitte, mein Liebchen. Komm, wir sehen es uns an.«
»Ja, mein Herr, hört auf die kleine Dame«, sagte Kail auf eine Art, die er für manierlich hielt. »Ihr könnt es Euch ebenfalls ansehen. Und es wird Euch nichts kosten. Seid die Ersten! Oder geht weiter.«
Der Mann mit der Brust wie ein Fass warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung des Monstrositätenkabinetts, schaute dann in das erwartungsvolle Gesicht seiner Frau und seufzte.
»Na gut, Grita, aber dann kommen wir zu spät zum Tor«, sagte er widerwillig.
Kail klatschte vor Freude in die Hände. Wie er erwartet hatte, bildete sich allmählich ein kleiner Auflauf, der bereit war, ein wenig später das Monstrositätenkabinett zu besuchen und vorher zu sehen, was sich in dem Wagen befinden mochte. Das Licht der Fackeln warf lange, huschende Schatten über das Öltuch und verlieh ihm das Aussehen eines bedrohlichen Tümpels, aus dem bald etwas Scheußliches auftauchen würde.
»Kommt an diese Seite, meine Dame«, sagte er zu der Frau, die nun eifrig zu der Stelle schritt, auf welche der Fischer gedeutet hatte. Der Mann folgte ihr laut seufzend. Kail warf einen Blick über die Schulter in Richtung Zirkus. Wie erwartet, hatte er die Aufmerksamkeit von so vielen Leuten errungen, dass der Bucklige am Tor neugierig wurde. Der Kartenabreißer murmelte einer der Wachen etwas zu. Der muskelbepackte Hüne schlüpfte durch das Tor und verschwand im Innern des Zirkus.
Kail wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Frau zu, die ungeduldig neben dem Wagen tänzelte. Er nahm einen so höflichen Ton wie möglich an.
»Seid Ihr bereit, meine Dame?«
Die Frau nickte eifrig.
»Achtet darauf, innerhalb der Reichweite Eures prächtigen Gemahls zu bleiben. Das hier ist ein wildes Tier.«
»Mach endlich voran«, brummte ihr Mann.
Kail schaute noch einmal in die Menschenmenge und nickte, als er sie für groß genug hielt.
»Also gut. Seht Euch den Wundersamen Fischjungen an!«
Er packte das Öltuch und zog es hoch, sodass die Frau und ihr Gemahl in das Innere des Wagens schauen konnten, während der Rest der Umstehenden die Gesichter der beiden beobachtete.
Der Mann und die Frau spähten in die Tiefen des Wagens.
Zuerst erblickten sie nur Dunkelheit. Die Frau stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor, um besser sehen zu können, während ihr Mann die Arme verschränkte und verärgert wirkte.
»Ich seh gar nichts«, sagte er griesgrämig.
»Ich auch nicht ...«
Gerade als die Frau die Worte ausgesprochen hatte, sprang die Kreatur im Wagen mit aller Kraft auf sie zu und zischte und kreischte wild. Schwarzes Wasser ergoss sich zwischen den weichen, gelben Zähnen aus ihrem an den Rändern offen stehenden Mund, und die umwölkten Augen waren erfüllt von mörderischer Wut.
Beide wichen vor Entsetzen zurück und kreischten gemeinsam auf. Das Gesicht der Frau war ganz grau geworden. Schluchzend verbarg sie sich hinter ihrem Mann, doch er vermochte ihr nicht zu helfen, denn er wirkte wie angewurzelt und kreischte wie ein Affe.
Diese Enthüllung hatte den erwünschten Erfolg. Das Entsetzen des Mannes und seiner Gemahlin waren so echt, dass eine Welle des Grauens über die ganze Zuschauerschaft hinwegbrauste, die vor Angst aufkeuchte, auch wenn niemand sonst das Ungeheuer in dem Wagen gesehen hatte.
Kail kicherte über das Entsetzen, das sich auf Bächlins Gesicht breit gemacht hatte. Die Welle des Schreckens hatte auch seinen Gefährten erreicht. Er zog das Öltuch wieder über den Wagen.
»In Ordnung«, rief er der Menge zu, die sich um ihn versammelt hatte und wegen der Schreie auf das Dreifache angewachsen war. »Wer ist der Nächste?«
Bächlin hatte sich inzwischen wieder erholt und beobachtete das Tor. »Kail«, murmelte er, »er kommt.«
Ohne hinzusehen, nickte Kail. »Ihr, mein Herr?«, fragte er rasch und zog einen großen, stämmigen Mann an den Rand des Wagens. Die Leute, die in seiner Nähe gestanden hatten, traten hastig zurück.
Gerade als der Mann zum Beobachtungsplatz gelockt wurde, traten der Zirkusdirektor und zwei seiner Aufseher in den Kreis der Zuschauer. Kail wartete mit der Enthüllung, bis der Zirkusdirektor nahe genug stand. Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, zog der Fischer das Öltuch wieder fort und rief damit ein ersticktes Keuchen und einen Schrei echten Grauens aus der Tiefe des stämmigen Mannes hervor.