Die Hitze des Spätsommers nahm allmählich ab bei seinem Ritt über die transorlandische Straße, die während der gedeihlichsten Tage des vergangenen Reiches erbaut worden war. Diese Straße teilte das Land Roland von der Küste bis zum Fuß der Manteiden, die auch als Zahnfelsen bekannt waren. Sie waren Achmeds Herrschaftsgebiet. Die zunehmende Kühle der Jahreszeit und der frische Wind verschafften ihm einen klaren Kopf und erlaubten ihm, all seine Erlebnisse zu überdenken.
Die Westküste, die er hinter sich gelassen hatte, brannte noch, obwohl die Feuer zurzeit seiner Abreise nach und nach gelöscht wurden. Die Asche aus den geschwärzten Wäldern war auf dem Wind ebenfalls nach Osten gezogen, und daher waren während der ersten Reisetage Nase und Adern wund gewesen. Doch als er Bethania, den Mittelpunkt des Reiches von Roland, erreicht hatte, war der Wind klarer geworden, genau wie sein Kopf. Es gelang ihm wieder, seine Gedanken, die vom Verschwinden eines seiner beiden Freunde auf dieser Welt abgelenkt gewesen waren, auf das zu richten, was ihm in den letzten Monaten am wichtigsten gewesen war. Nun, da sich dieser Freund – genauer gesagt: diese Freundin – in Sicherheit befand, nahm die Fertigstellung seines Turms wieder sein ganzes Denken ein. Viele der Gründe, aus denen er wie besessen die Instrumente nachbauen ließ, die der Gipfel des Gurgus früher einmal beherbergt hatte, lagen in der Vergangenheit. Aber der wichtigste lag in der Zukunft.
Das Klappern der Pferdehufe unter ihm war ein Lärm, der alle unwesentlichen Gedanken vertrieb. Die Panjeri-Glaskünstlerin, die ich in Sorbold angeheuert habe, hatte viel Zeit, um mit dem Lichtfänger voranzukommen. Inzwischen muss die Decke des Thrmes fertig sein, dachte der König und versuchte sich vorzustellen, wie der Gurgus bei seiner Vollendung aussehen würde. Ein Kreis aus farbigen Glasscheiben, sieben insgesamt, alle in den reinsten Farben des Regenbogens gebrannt, würde dem Gipfel bald eine Macht verschaffen, die Achmed bei seiner Lebensmission unterstützen sollte.
Es ging darum, das Schlafende Kind vor den F’dor zu beschützen, jenen Feuerdämonen, die unablässig nach ihm suchten.
Seit er mit der Errichtung des Turms begonnen hatte, war der Firbolg-König noch seltener als sonst zur Ruhe gekommen. Seine Besessenheit war mit Ungewissheit gepaart; von der Ausbildung und seiner früheren Tätigkeit her war er ein geschickter Mörder und Totschläger, der seit Jahrhunderten allein gearbeitet und nur die Aufträge angenommen hatte, die ihn gefesselt hatten oder seiner Aufmerksamkeit wert gewesen waren. Die Lebensumstände hatten ihn aus dem alten Land seiner Heimat fortgeführt, das nun unter den Wellen des Meeres begraben lag, und an diesen neuen und unsicheren Ort geleitet, wo er guten Nutzen aus seinem Geschick ziehen konnte. So hatte er die Herrschaft über die nur lose verbundenen, kriegerischen Stämme der Bergbewohner erlangt, indem er aus diesen Halbmenschen ein Königreich geschmiedet hatte. Unter seiner Hand und mithilfe seiner beiden Freunde hatte er aus ihnen eine standhafte Nation gemacht und ein Reich voller Stärke und entschlossener Unabhängigkeit geschaffen. Nun war er ein König. Und er war immer noch ein geschickter Mörder.
Ein Mechaniker hingegen war er nicht.
Als er die Pläne für den Lichtfänger tief in der Gruft des Königreiches entdeckt hatte, über welches er nun herrschte und das einst eine große, durch eigene Dummheit untergegangene Zivilisation gewesen war, war er in kalten Schweiß ausgebrochen. Er konnte die Schrift auf dem alten Pergament nicht lesen; es war in einer Sprache beschrieben, die schon in der Jugend seiner lange untergegangenen Heimat alt gewesen war. Daher war er sich der Angaben, welche die Zeichnungen und Anweisungen zum Bau der Instrumente betrafen, ebenso wenig sicher wie der Fähigkeiten des Gerätes. Er wusste nur, dass er in den Einzelheiten etwas wieder erkannt hatte, was in der alten Welt ein Apparat von unübertreffbarer Macht gewesen war; unfehlbar hatte er damals eine gesamte Bergkette vor jenen Dämonen geschützt, die nun nach dem Erdenkind suchten, welches er beschützte. Offenbar war dieses Instrument vor langer Zeit hier ebenfalls in Gebrauch gewesen.
Seit seiner Entdeckung hatte er die Herausforderung verspürt, es nachzubauen. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er sich auf Hilfe von außen und auf andere Gutachten als seine eigenen verlassen, um etwas herzustellen, das zum Teil Waffe, zum Teil Wahrsagevorrichtung und zum Teil Heilmaschine war. Und es musste im Geheimen erbaut werden, in der Hoffnung, dass er weder in die Irre geführt noch hintergangen wurde. Achmed hatte nur wenig Hoffnung und litt daher heftig. Zweifel und Sorgen plagten ihn und verbanden sich mit dem brennenden Glauben, dass allein dieser Apparat in der Lage sein würde, sein Königreich unverwundbar zu machen und nachhaltig vor den Angreifern zu schützen, die eines Tages zu seiner Vernichtung ausströmen würden. Noch viel wichtiger aber war, dass die Maschine ihm helfen würde, das Schlafende Kind vor den unsichtbaren Ungeheuern zu bewahren, die andauernd nach ihm suchten.
Von seinen beiden Freunden war die eine eine lirinische Benennerin, geschult in der Musik der Worte, in uralten Überlieferungen und der toten Sprache der Zeichnungen. Die Tiefe der Magie in jenen Zeichnungen hatte sie beunruhigt, und sie hatte ihn gebeten, sich nicht mit Dingen abzugeben, die er nicht verstand. Doch am Ende waren ihre Treue und Liebe zu ihm stärker gewesen als ihre Vorbehalte, und sie hatte ihm auf seinen drängenden Wunsch hin eine kurze Übersetzung eines der Dokumente angefertigt. Es hatte ein Rätsel in Form eines Gedichts sowie das System des Farbspektrums samt einer Beschreibung der Macht aller Farben enthalten.
Während des Reitens sang er das Gedicht vor sich hin und versuchte es auf diese Weise in sein Gedächtnis einzugraben, doch die Worte wollten nicht dort bleiben. Er war noch nie in der Lage gewesen, sich an Worte in der alten Sprache zu erinnern. Für eine geraume Zeit behielt er die Übersetzung der Farben im Kopf, aber auch nur dann, wenn er sich sehr anstrengte. Selbst dann war er sich ihrer nicht sicher, als ob eine ihnen innewohnende Magie ihm den Zugang absichtlich verwehrte.
Rot – Blutretter, Blutgeber, dachte er und versuchte sich die Worte so vorzustellen, wie Rhapsody, die Benennerin, es ihm beigebracht hatte. An dieses konnte er sich wenigstens gut erinnern. Orange – Feuerleger, Feuerlöscher. Auch bei diesem war er sich recht sicher. Gelb – Lichtbringer, Lichtersticker? Seine Erinnerung ließ nach. Verdammt. Ich weiß es nicht mehr.
Doch bald würde das keine Rolle mehr spielen. Er hatte eine Glaskünstlerin im benachbarten Königreich Sorbold gefunden, eine Panjeri-Meisterin aus einem Stamm, der in der ganzen Welt für seine Fähigkeit bekannt war, den Sand der Wüste und die Asche der Gehölze zum wunderbarsten Glas zu schmelzen und Regenbögen in fester und doch durchscheinender Gestalt einzufangen, mit denen die Fenster von Tempeln und Krypten geschmückt wurden. Er hatte ihr freie Hand gelassen und sie unter die Aufsicht von Omet gestellt, seinem besten Handwerker. Gemeinsam sollten sie die Glaskuppel des Gurgus herstellen, die später einmal, wenn sie fertig und mit der Maschine verbunden war, zum Lichtfänger werden würde. Im Stillen wagte er sogar zu hoffen, dass das Werk bei seiner Rückkehr vollendet wäre.
Plötzlich zügelte er mit unbändiger Wut sein Pferd. Es war nicht nur ein kleiner Schock für ihn, als er die Regenbogenscherben erkannte, die über die Krevensfelder und zwischen dem Vorgebirge seines Reiches verstreut lagen.