Doch die Erinnerung an Anwyns Vernichtung zerstreute ihre unbewussten Ängste nicht und vertrieb auch nicht die Träume von Zerstörung und Tod aus ihrem Kopf. Sie verpflanzte sie lediglich in die Gegenwart, wodurch Rhapsodys Herz noch heftiger schlug, während ihren gebannten Geist Bilder ihrer selbst trafen, wie sie vor einer Welle ätzenden Feuers davonlief, die Hände vor dem Bauch, zum Schutz des Kindes. In manchen Szenen schob sie das Kind vor sich her, in anderen trug sie es im Arm; manchmal war es noch in ihr, während sie sich in der Dunkelheit versteckte und es nach seiner Urgroßmutter rief und dadurch ihren Aufenthaltsort verriet. Jedes Mal, wenn sie einen neuen Zufluchtsort gefunden hatte, stöberte die Drachin sie auf. Immer wieder floh Rhapsody mit dem Kind, bis sie schließlich an sich herunterschaute und feststellte, dass sie allein und ihre Arme leer waren. Nun zeigten ihr die Träume eine wogende See, lodernde Schiffe und eine brennende Küste hinter der Uferlinie, einen Kontinent, ja, eine ganze Welt im Krieg. Große geflügelte Wesen kreisten über dem Land und schössen plötzlich auf die dunklen menschlichen Gestalten herab, die durch den Rauch rannten. Die Bestien pflückten sie vom Boden ab und nahmen die sich windenden Opfer mit in den Himmel.
Als Ashe zurückkehrte, war sie in Schweiß gebadet und sprach im Schlaf mit leiser, panischer Stimme. Er eilte zu ihrem Bett, nahm sie in die Arme und beruhigte sie, während seine Drachnatur die Albträume vertrieb und sie aus dem Äther verbannte, der Rhapsody umgab. Er flüsterte ihr tröstende Worte zu, bis ihre Atemzüge tiefer und gleichmäßiger wurden, ihr Fieber sank und sie traumlos an seiner Schulter weiterschlief.
Er lag lange Zeit wach, streichelte ihre feuchte Stirn, liebkoste ihre seidigen Goldlocken und fragte sich, was die Nachtmahre zurückgeholt haben mochte, unter denen sie früher schon gelitten hatte, von denen sie jedoch nun schon so lange befreit gewesen war. Vielleicht war es die noch nicht lange zurückliegende Entführung durch den verderbten Mann gewesen, der vor langer Zeit einen Pakt mit einem Dämon eingegangen war, um Unsterblichkeit zu erlangen, und dann nach ihr gesucht hatte. Selbst die Vernichtung ihres Entführers und ihre Rückkehr in die Geborgenheit hatten wohl kaum alles Grauen aus ihren Gedanken gelöscht. Vielleicht war es das, was sie nun plagte.
Schließlich glitt er selbst in Träume hinüber – in Träume, in denen er durch Wasser wanderte, durch den Ozean reiste, gestaltlos und ohne körperliche Beschränkungen, und mit dem Element sprach, an das er gebunden war, so wie Rhapsody an das Feuer gebunden war. Er hatte es in der Vergangenheit schon oft getan, war ins Meer gewatet und hatte seinen Körper durchlässig gemacht, während er zwischen den Wellen stand, damit Seele und Geist von allen Sorgen gereinigt wurden.
Während sie in der Dunkelheit der Bettkammer nebeneinander schliefen, ihre Herzen gleichzeitig, aber nicht gemeinsam schlugen und ihr Atem im Einklang ging, wussten sie nicht, dass zwar Ashe von der Vergangenheit träumte, Rhapsody aber von kommenden Dingen.
Als ihr Hunger gestillt war, stieg die Drachin wieder auf die kalten Gipfel.
Der Nachthimmel erstreckte sich endlos und voller Versprechungen. Sterne blinkten am dunklen Horizont, und über allem schien am Firmament die Aurora – pulsierende Bänder aus vielfarbigem Licht, die zur stillen Musik des Universums tanzten.
Die Drachin sog den frostigen Wind ein. Ich erinnere mich daran, dachte sie, während sie die gewundenen Lichtbänder in der Dunkelheit über ihr beobachtete. Die Nordlichter. Wie hell sie leuchten und wie kalt. Sie entsann sich, wie sie im Körper einer Frau unter ihnen gestanden hatte, unter dem schwarzen Himmel und den glitzernden Sternen, und zugesehen hatte, wie ihr Atem eisige Wolken in der Finsternis gebildet hatte, während sie über die Macht, die Schönheit und die ferne Majestät der Aurora nachgedacht hatte. Sie war ein Zeichen für die Macht des Äthers, jenes Elements, das vor der Welt geboren worden war, das die Sterne erleuchtete, das in der Erde und in der gewaltigen Leere des Weltraums brannte. Als ein Geschöpf mit Drachenblut in den Adern war sie in der Lage gewesen, das Wispern des Elements in ihr selbst zu spüren. Nun, in Drachengestalt, pulsierte es in ihr im Einklang mit den Schwingungen der Aurora.
Äther. Seine kalte Schönheit hypnotisierte sie. Aber es war auch die Macht des Äthers zusammen mit der des reinen Feuers, die sie auf ewig in diese Gestalt gebannt hatte – in diesen elenden, schlangenartigen Körper. Am fernsten Rand ihres Bewusstseins blitzte grell ein Erinnerungsfetzen auf.
Eine junge Erinnerung, nicht aus der alten Zeit, als sie noch eine Frau war, sondern aus den Tagen der Drachengestalt.
Sie flog, schwebte im warmen Wind und hielt etwas in ihren krallenbewehrten Klauen.
Eine nette Aussicht, nicht wahr, meine Dame? Wie gefällt dir der Ausblick von hier oben?
Ein Bild zuckte in ihrem Kopf auf und wurde gleich darauf von ihrer Haut aufgenommen. Es war der Blitz einer brennenden Waffe, eine stechende Wunde im Flügel und Schmerzen, als sengende Hitze durch sie hindurchfuhr und ihr das Fleisch aufriss. Die Pein hallte noch im Gewebe zwischen den hohlen Knochen des verkrüppelten Flügels wider. Unwillkürlich zuckte sie bei dieser Erinnerung zusammen Deine Seele sei verdammt, Anwyn.
Zu spät, hatte die Drachin geflüstert. Ihre eigene Stimme hallte in ihrer Erinnerung wider.
Sie folgte dem Pfad der Erinnerung zurück und schaute mit ihren inneren Augen auf die blutgetränkte Klaue. Sie hatte den Eindruck, dass die Kreatur, die sich in ihrem Griff wand, eine Frau war – eine kleine Frau mit goldenen Haaren, die eine Waffe aus Feuer schwang. Sie versuchte den Namen der Frau in ihrem Mund zu formen, aber er entzog sich ihr noch.
Hass, schwarz wie der Nachthimmel über ihr, brannte wie das kalte Feuer der Aurora in ihrem dreikammerigen Herzen.
Anwyn, dachte sie. Der Name rührte eine Saite in ihrer Erinnerung an. Anwyn.
Ihr Name.
Ihr eigener Name.
Und sie erinnerte sich.
12
Der Morgen kroch durch die östlichen Fenster, ungebeten und unwillkommen.
Im grauen Licht der frühen Dämmerung richtete sich Rhapsody auf. Sie war benommen und dennoch ein wenig erfrischt. Sie drückte einen warmen Kuss auf die Wange ihres schlafenden Gemahls, lehnte sich zurück und beobachtete ihn eine Weile. In Liebe bewunderte sie sein Gesicht. Kinn und Wangen waren vom Schatten des Nachtbartes überzogen. Wenn er die Augen geschlossen hatte, war sein menschliches und lirinisches Erbe deutlicher als bei wachem Zustand zu erkennen. Die senkrechten Schlitze in seinen Augen waren das einzige unleugbare Zeichen des Drachenblutes in seinen Adern. Wenn er schlief, war er indes ein Mensch. Rhapsody ging das Herz auf bei diesem Anblick.
Als Ashe im Schlaf seufzte und sich zur Seite rollte, stand sie auf, fuhr mit der Hand sanft über seine Schulter und begab sich ins Ankleidezimmer, um sich für ihre Morgenandacht fertig zu machen.
Die Luft im Garten war kalt. Der Herbst kam, und die Erde kühlte sich zur Vorbereitung auf den bald einsetzenden, langen Schlaf allmählich ab. Wenn es in diesem Jahr wie immer war, würde der erste Schnee etwa eine Woche vor der Wintersonnenwende fallen und den mittleren Kontinent mit einer gleichmäßigen Frostschicht bedecken, die tief in den Boden einsank, bis nach dem Julfest eine kurze Tauperiode kam, während der das raue Wetter eine Mondphase lang aussetzte, bevor das Reich des Frostes zurückkehrte und bis zum Frühling andauerte. Diese Wärme im tiefsten Winter nahm einen besonderen Platz in Rhapsodys Herzen ein. Es war »Tau« gewesen, als sie, Achmed und Grunthor zum ersten Mal an diesen Ort gekommen waren. In der verhältnismäßigen Wärme der Zwischenperiode waren sie aus dem dunklen Bauch der Erde ans Licht gekrochen.
Doch bevor der Winter einsetzte, kam der Herbst, Erntezeit, ihre Lieblingsjahreszeit. Sie hatte die ersten Anzeichen dafür bei ihrer Rückreise von der Küste bemerkt, nach ihrer Entführung, als das Land von Gwynwald bis Avonderre gebrannt hatte. Nachdem Ashe und Achmed sie zurückgebracht hatten, war sie beinahe eine ganze Woche ans Bett gefesselt gewesen, bis sie aufbegehrt hatte und zum Fenster geeilt war, von wo aus sie rechtzeitig den Beginn des Herbstes miterlebt hatte. Die Blattspitzen der Bäume hinter dem Balkon ihres Turmfensters hatten erste Färbungen von Rot und Orange, Gelb und Braun angenommen.