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Als sie nun über die gepflegten Gartenwege Hagueforts ging und auf die ersten Sonnenstrahlen am Horizont wartete, sog Rhapsody den Morgenwind ein, der mit dem Geruch nach Hickoryholz und Kiefern und dem scharfen Duft von brennendem Laub gewürzt war. Es erinnerte sie an das Zuhause ihrer Kindheit in Serendair, das Bauernland, in dem sie geboren war und wo der Herbst eine Zeit voller Dringlichkeit, Aufregung und Lebendigkeit gewesen war, weil das Jahr kürzer und die Tage dunkler wurden. Sie beobachtete nun den Himmel. Die Liringlas, die Sternensänger der Lirin, pflegten die Morgendämmerung mit Liedern zu begrüßen; sie spürten, wenn das Himmelblau des Horizonts am tiefsten war und den Aufgang der Sonne anzeigte.

Der erste Strahl des Morgens durchbrach den Horizont, schickte einen dünnen Lichtpfeil in die Wolken und badete sie in goldenem Licht. Rhapsody räusperte sich und setzte zu dem uralten Gebet an, dem Willkommenslied, das ihre lirinische Mutter ihr beigebracht hatte, während ihr menschlicher Vater bezaubert dabei gestanden hatte.

Sie sang das erste Morgenlied, wandte sich dann nach Westen und begann mit dem zweiten, dem Gesang, der den Morgenstern verabschiedete. Rhapsody schaute zu, wie das helle Sternenlicht im entflammenden Himmel schwächer wurde, und sang schließlich ihr letztes Lied, den Gesang an Seren, den Stern auf der anderen Seite der Welt, unter dem sie geboren worden war.

Ana, sang sie leise, mein Leitstern. Es war Tradition, dass jede Liringlas-Seele an den Stern gebunden war, der über den Tag ihrer Geburt herrschte. Der Seren war Rhapsodys Geburtsstern; es war der helle Himmelskörper, nach dem die Insel Serendair benannt worden war. Dieses Lied fiel ihr immer schwer, wenn sie es in ihrem neuen Land sang, denn sie konnte den Stern dabei nicht sehen. Er funkelte in der Dunkelheit eine halbe Welt weit entfernt, wenn hier die Sonne hoch am Himmel stand, und schlief im Licht des Tages, wenn Rhapsody unter den Sternen dieses neuen Landes stand. Rhapsody hatte an diesem Morgen das traditionelle Abendlied gesungen, weil sie ihren Geburtsstern ehren wollte, wenn er schien, obwohl sie ihn nicht sehen konnte.

Als sie das Namenslied des Sterns sang, hörte sie eine voll tönende, knisternde Stimme einfallen und in derselben Sprache singen.

Seren, si vol nira caeleus, toterdaa guiline meda vor tu.

Blut stieg ihr ins Gesicht. Sie brach den Gesang ab, wirbelte herum und sah JaFasee hinter sich stehen. Er lächelte freundlich, doch sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als er ihre Reaktion sah.

»Bitte vergebt mir, Herrin«, sagte er und verneigte sich ehrerbietig. »Ich wollte Euch nicht stören.«

Rhapsody durchquerte den Garten. In einer unbewussten Geste des Schutzes legte sie eine Hand auf ihren Bauch.

»Woher ... woher kennt Ihr die lirinischen Gesänge?«, fragte sie beunruhigt und bemühte sich, in einem angemessenen Ton zu reden.

Jal’asee lächelte. »Ihr vergesst, Herrin, dass die meisten Lirin, die aus Eurer Heimat – unserer Heimat – flohen, mit der Zweiten Flotte segelten. Nachdem die Flotte in einem Sturm vom Kurs abgekommen war, reisten die meisten nicht bis zu diesem Kontinent weiter oder folgtem dem Rest der Flotte nach Manosse, sondern gingen in Gaematria an Land. Daher lebe ich mit einer großen Zahl Eurer Landsleute zusammen. Zweifellos mit mehr, als Ihr je gesehen habt, falls Ihr unter Menschen aufgewachsen seid.« Er steckte die langgliedrigen Finger in die Ärmel seiner Robe und trat vorsichtig auf sie zu, während die Sonne über den Horizont stieg und den Himmel strahlend blau färbte.

»Ich habe in meinem Leben nur wenige aus der Rasse meiner Mutter getroffen«, gestand Rhapsody. Eine Welle der Übelkeit durchfuhr sie. Sie kämpfte sie nieder. Dann ahmte sie Jal’asees Handhaltung nach, denn ihre Finger waren plötzlich kalt geworden, entweder von der Morgenkühle oder vom Schock der Überraschung darüber, dass er zusammen mit ihr das Morgenlied gesungen hatte.

Der alte, goldhäutige Mann trat näher und blieb stehen, als er in angenehmer Hörweite war. »Außerdem wage ich anzumerken, dass ich aus einer älteren Rasse als der Euren stamme, so alt die Lirin auch sein mögen«, sagte er sanft. »Es heißt, die Seren stammten von den Sternen ab und seien eine Rasse, die aus jenem Ort hervorging, wo das Element auf der Erde geboren wurde – dort, wo das Sternenlicht diese Welt zuerst berührte. Genau wie die Insel sind wir natürlich nach dem Stern benannt. In Eurem Lied schwingt der wahre Name des Sterns mit. Daher ist es nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, dass ich dieses Lied ebenfalls kenne.« Er zwinkerte ihr zu.

»Und falls dem nicht so sein sollte, habe ich ein Ohr für schwierige Melodien, wie man mir nachsagt.«

Rhapsody kicherte verlegen. »Wie anmaßend von mir. Ich bitte Euch um Entschuldigung, Euer Exzellenz.«

»Bitte, Herrin, redet mich mit meinem richtigen Namen an. In meinem Volk ist dies ein Zeichen sowohl der Freundschaft als auch des Respekts.« Rhapsody nickte. »Euer Gemahl bat mich, Euch hier zu treffen. Ich entschuldige mich dafür, dass ich zu früh bin.«

»Keineswegs.«

»Ausgezeichnet. Also, was kann ich für Euch tun? Ich stehe zu Euren Diensten.«

Rhapsody bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen, während sich ihr Magen auflehnte. »Ihr könnt Eure Bemerkungen vom vergangenen Abend erhellen, da sie mich verwirrt haben.«

»Darüber, dass ich gesehen habe, wie Ihr die Insel verließet?«

»Ja.«

Jal’asee betrachtete eingehend ihr Gesicht. Rhapsody bemerkte, dass ihm das Kommen und Gehen ihrer Übelkeit wie auch die Bewegungen des Kindes in ihr bewusst waren. Als der Brechreiz nachließ, streckte der Botschafter der Meeresmagier den Arm aus und führte sie zu einer marmornen Bank vor einem plätschernden Springbrunnen.

»Wisst Ihr, warum die Leute seekrank werden?«, fragte er mit seiner tiefen Stimme, als sie sich setzten.

»Besonders die Menschen. Nachdem sie alle einer Rasse entstammen, die aus dem Wasser hervorgegangen ist, und sie selbst zu einem großen Teil ebenfalls daraus bestehen, könnte man meinen, dass sie an den Rhythmus des Meeres gewöhnt sind. Aber da sie eine unbewusste Abneigung gegen den Ozean haben und den Wunsch hegen, von ihm getrennte Wesen zu sein, stimmen die Schwingungen nicht überein, und so werden sie krank. Wenn sie bloß lernen könnten, das Element in sich anzuerkennen!« Er streckte die eine Hand zu dem Wasser aus, das in pulsierenden Strömen aus dem Springbrunnen schoss, und legte die andere gegen Rhapsodys Stirn. Unwillkürlich schloss sie die Augen.

Sie hörte, wie das Plätschern lauter wurde, und erkannte sogleich, dass es Jal’asees Stimme war, die sich vollkommen den Schwingungen des herabströmenden Wassers angepasst hatte. Sie spürte, wie die Übelkeit in ihr wich. Ihr Magen beruhigte sich, und ihre Ausgeglichenheit kehrte zusammen mit ihrem klaren Blick zurück, den sie seit der Empfängnis des Kindes nicht mehr gehabt hatte. Sie hatte plötzlich ein Gefühl des Wohlergehens, als ob sie in einer Blase schwimme, die sie vor den Stößen und Knüffen der Luft schützte, die ihr seit einigen Monaten zusetzten. Sie öffnete die Augen und sah, dass der große, goldhäutige Mann mit den hellen Augen sie anlächelte.

»Besser?«

»Ja, vielen Dank«, antwortete Rhapsody. »Nun sagt mir bitte, was Ihr letzte Nacht mit Eurer Bemerkung gemeint hattet.«

Jal’asee schaute sie nachdenklich an. Rhapsody hätte schwören können, dass das Plätschern des Wassers im Springbrunnen wieder lauter wurde.