»Habt Ihr je einen aus meiner Rasse gesehen, als Ihr auf der Insel Serendair lebtet?«, fragte er schließlich. Seine Stimme war sanft und nicht mehr so kratzig wie zuvor. Sie passte sich dem Klang des fallenden Wassers an. Rhapsody dachte über seine Frage nach. »Nein«, sagte sie, »obwohl ich ein wenig über die alten Seren weiß. Mein Lehrer Heiles, der Mann, der mich in der Kunst des Singens ausbildete, führte mich auch in die alten Überlieferungen ein und erzählte von den einzelnen Rassen der Erstgeborenen, doch bevor wir in die Tiefe gehen konnten, verschwand er. Ich habe ihn nie wieder gesehen, also musste ich meine Studien allein beenden.«
Jal’asee nickte. »Hattet Ihr schon immer auf den Feldern gelebt, oder wart Ihr auch einmal in einer größeren Stadt gewesen?«
»Ich ... ich war als junges Mädchen von zu Hause fortgelaufen und lebte einige Jahre in Ostend.« Rhapsody errötete, als sie an ihr Leben dort und an das dachte, was sie getan hatte, um zu überleben.
»Ostend war die größte Stadt der Insel, eine Hafenstadt, zu der die Kaufleute aus allen Teilen Serendairs und aus vielen anderen Ländern strömten. Und doch habt Ihr in all den Jahren, die Ihr dort verbracht habt, nie einen alten Seren gesehen?«
»Nein. Ich hatte geglaubt, dass sie in einem früheren Zeitalter ausgestorben wären – außer dem Graal, dem Wesir des Königs, der aus den Geschichten der reisenden Kaufleute bekannt war.«
Der Meeresmagier setzte sich bequemer hin. »Herrin, vor langer Zeit, bevor der Großvater des Königs, der über die Insel herrschte, die Ihr als Kind kanntet, war ich Lehrer an der Stillen Festung, der königlichen Schule von Serendair. Auch bin ich Professor der natürlichen Magie und der Gezeitenschwingungen an der Akademie von Gaematria. Ich erzähle Euch das aus zwei Gründen. Erstens möchte ich Euch an meinen Kenntnissen teilhaben lassen, die Ihr aufgrund Eurer Gabe des Benennens als der Wahrheit so nahe wie möglich erkennen werdet.«
Rhapsody nickte. Jal’asee kicherte. »Falls ich zweitens bei meiner Geschichte einen herablassenden, befehlenden oder anmaßenden Ton anschlagen sollte, bitte ich dies zu entschuldigen. Einmal Gelehrter, immer Gelehrter. Ich will in keiner Weise Euch gegenüber herablassend erscheinen, aber allen Professoren sind einige Dinge eigen, und Scheinheiligkeit ist eines davon. Dafür entschuldige ich mich bereits im Voraus von ganzem Herzen.«
Rhapsody lachte.
Jal’asee räusperte sich. »Vergebt mir, wenn ich Euch etwas erzähle, was Ihr bereits wisst«, sagte er.
»In der Geschichte dieser Welt ist das früheste, noch vor dem Einsetzen der Geschichtsschreibung liegende Zeitalter als die Vorzeit bekannt. In dieser Zeit traten die Erstgeborenen ins Leben, die unmittelbar aus den fünf Elementen hervorgegangen sind. Die Seren waren die Ersten, und das Element des Äthers war das erste Element. Es kam von einem anderen Ort in die Welt; es ist das Feuer der Sterne und besitzt eine natürliche Musik, die Musik des Lichts. Ich vermute, Ihr wisst das?« Rhapsody nickte. »Gut. Habt Ihr je einen Angehörigen einer anderen Erstgeborenen-Rasse gesehen? Habt Ihr je jemanden getroffen, der ein Kith, ein Mythlin oder ein F’dor war? Oder ein Drache? Ihr habt in der alten Welt nie einen Drachen gesehen, oder?«
»Nein«, gestand Rhapsody. »Mir sind fast nur Menschen begegnet. Einige der später Geborenen stammten von den Erstgeborenen ab. Ich habe einige Gwadd gesehen, und meine Mutter war eine Lirin. Ich glaube, ich bin sogar ein paar Nain begegnet, auch wenn ich damals nicht wusste, wer sie waren. Aber ich habe nie einen von den Erstgeborenen gesehen. Wie gesagt dachte ich, sie seien allesamt ausgestorben, so wie man uns es beigebracht hatte.«
»Nun, wie Ihr sehen könnt, sind wir noch nicht ausgestorben.« Jal’asee bedeckte die Augen, als die Sonne höher stieg und den Garten mit hellem Licht überschüttete.
»Wo wart Ihr denn?«, fragte die Herrin der Cymrer.
»Wir haben uns versteckt«, antwortete der Botschafter der Meeresmagier ernst. »Viele Jahrhunderte hindurch.«
»Warum?«
»Aus Selbstschutz«, erklärte Jal’asee. »Die Seren waren die Ersten, die auf der Insel erschienen, aber wir waren nicht lange allein. In früher Zeit, nachdem die F’dor tief im Innern der Welt eingekerkert worden waren, herrschte Friede – sehr lange, wenn man Euren Zeitmaßstab anlegt. Doch schließlich traten die jüngeren Rassen auf, die Lirin und die Nain, die sich nicht umeinander kümmerten. Zu ihrer Zeit lebte die Insel größtenteils noch in Frieden, denn die Orte, die sie zum Leben wählten, lagen weit voneinander entfernt und gefielen dem jeweils anderen Volk nicht, sodass es kaum zu Streitereien kam.
Doch dann, nachdem Jahrtausende vergangen waren, erschienen die Menschen – oder die Halbmenschen, wie wir sie nennen. Sie waren viele Generationen entfernt von der uranfänglichen Magie, welche die Erstgeborenen ins Leben gerufen hatte, und sterblich; sie führten ein kurzes, gewalttätiges Leben. Zuerst schien es, als kämen und gingen sie wie der Wind und löschten sich in ihrer Ungeduld selbst aus; doch wir haben ihre Stärke, ihre Ausdauer und ihren Blutdurst unterschätzt. Sie waren habgierig, dürsteten nach Land und Macht und haben beides auf jede mögliche Weise an sich gerissen – durch Krieg, Totschlag und Völkermord.
Und es waren viele. Sie haben unser einst weites und offenes Land mit ihren Siedlungen und Städten, ihren Festungen und Gefängnissen überzogen und sich immer weiter fortgepflanzt, bis sie beinahe alles erstickten, was vor ihnen da gewesen war. Wir hatten sie als Flüchtlinge willkommen geheißen, doch nun wollten sie alle Zivilisationen vor ihnen ausradieren. Ironischerweise so, wie Gwylliam es mit diesem Land hier getan hat.«
JaFasee hielt kurz inne, als ob die Geschichte ihn erschöpft habe. Rhapsody sah ihm in die Augen. In der goldenen Iris tanzte ein dunkler Wirbel; es war, als schaue er unmittelbar in eine schmerzliche Vergangenheit. Sie wartete still darauf, dass er fortfuhr, und beobachtete, wie die bronzene Farbe nach kurzer Zeit in seine dünnen, haarlosen Unterarme zurückkehrte. Schließlich schüttelte er den Kopf und schaute sie mit einem schiefen Lächeln auf seinem breiten, dünnen Mund an.
»Ich bitte um Vergebung, Herrin«, sagte er rasch und wischte sich mit einer schnellen Bewegung einige Schweißperlen von der Stirn. »Wenn einem bestimmt ist, ewig zu leben, nimmt die Geschichte manchmal eine Unmittelbarkeit an, welche die Zeit jenen vorenthält, über die sie Gewalt hat. Es ist, als sei das Geschehen von vor tausend Jahren erst gestern gewesen.«
Rhapsody nickte und wartete ab. Schließlich schüttelte sich der Meeresmagier, als wolle er den Schlaf vertreiben.
»Ich habe mit der Zeit gelernt, dass dies der Gang der Welt ist. In jeder Ära der Geschichte bildet sich eine Zivilisation heraus, herrscht eine Weile und wird dann von einer anderen verdrängt, entweder in einem jahrhundertelangen Prozess oder rasch und auf grausame Weise durch Eroberung, bis die Geschichte nur noch ein wirbelndes Meer des Wandels ist, in dem das Frühere ersetzt und das eine oder andere Bruchstück behalten wird. Es ist närrisch zu hoffen, dass das, was Ihr erbaut habt, überdauern wird, auch wenn wir selbst es tun werden.«
Der goldhäutige Mann blinzelte in das Licht der Sonne und richtete dann den Blick wieder auf Rhapsody.
»Als im Zweiten Zeitalter der Geschichte – das den Gelehrten von Gaematria als Zemertzah, >die zerbrochene Welt<, bekannt ist – den alten Seren klar wurde, dass sowohl unserer Kultur als auch unserem Volk die Vernichtung durch die fortschreitende menschliche Besiedlung Serendairs drohte, sahen wir für uns nur zwei Möglichkeiten des Überlebens. Wir konnten die Insel verlassen und in ein fernes und unbewohntes Land ziehen, wie Gwylliam es später am Ende des Dritten Zeitalters getan hat, oder wir versteckten uns in der Erde, tiefer als die Nain in ihren Bergen, und lebten in den Katakomben, die von der Geburt der Erde übrig geblieben waren. Die erste Möglichkeit war für uns unvorstellbar. Auch wenn wir nur wenige waren, so war unsere Rasse doch aus dem Licht der Sterne hervorgegangen und dem Lehm der Insel entsprungen, den das Sternenlicht berührte. Selbst im Angesicht von Krieg und Tod konnten wir unseren Geburtsort und unsere Heimat nicht verlassen. Also verschwanden wir vom Antlitz der Welt. Der größte Teil unserer Bevölkerung schlüpfte in diese Grotten, in diese Grüfte tief in der Erde, und nur wenige von uns blieben oben, um Wacht zu halten und auf die Zeit der Rückkehr zu warten.