Die Menschen, die Nain, die Lirin und ihresgleichen bemerkten kaum, dass wir verschwunden waren. Sie hatten genug mit ihren Kriegen zu tun, und als sich der Staub gelegt hatte, gingen die Menschen als Sieger hervor, wie Ihr bestimmt im Geschichtsunterricht gehört habt. Das Königreich einer jeden Rasse behielt seine Souveränität unter dem menschlichen Hochkönig, dessen Linie schließlich mit Gwylliam endete. Das Bündnis der Königreiche gestaltete die Insel nach seinem Willen. So war es, als Ihr geboren wurdet, und so war es auch noch, als die Flotten die Insel verließen. Alles, was in den Augen der Welt von meinem Volk übrig blieb, war eine Hand voll oberirdischer Seren – Graal, der Wesir des Königs, den Ihr schon erwähntet, ich und einige andere, zu deren Zählung Ihr nicht einmal zwei Hände brauchtet. Schließlich blieb nur Graal übrig: Als einer von uns auf grausame Weise getötet wurde, verließ der Rest außer Graal die oberirdische Luft und suchte Schutz in den Katakomben bei unserem Volk.
Und dort blieben wir, bis das Schlafende Kind andeutete, es werde sich erheben. Dann kamen jene von uns wieder in die Oberwelt, die Serendair verlassen und irgendwo anders weiterleben wollten.«
»Das alles wusste ich nicht«, murmelte Rhapsody.
JaFasee lächelte. »Wenn Ihr geblieben wäret, statt mit Euren Freunden die Insel zu verlassen, hättet Ihr es gewusst. Aber es geschah, während Ihr durch die Erde reistet, entlang der Wurzel der Sagia. Ja, Herrin, ich weiß, dass Ihr den Weltenbaum mithilfe eines Schlüssels aus Lebendigem Gestein betreten habt, in Begleitung jenes Mannes, der nun der König der Bolg ist, und seinem Sergeant-Major, denn als Ihr an der Pfahlwurzel des Baumes in die Dunkelheit hinabgeklettert seid, habe ich vom Eingang der Katakomben, die der Baum schützte, hinausgeschaut und Euch mit eigenen Augen gesehen.«
Die Erinnerung an die Reise durch die Erde brauste zurück: das erstickende Gefühl, tief unter dem Boden zu stecken, getrennt vom schützenden Himmel. Schweiß brach auf Rhapsodys Stirn aus. Sie schloss die Augen und schluckte, versuchte die Angst zu bekämpfen, die sie auch vier Jahre später immer noch spürte, obwohl die Reise durch das Innere der Welt zeitlos gewesen war. Als sie wieder an die Oberfläche gekommen waren, hatten sie festgestellt, dass inzwischen vierzehn Jahrhunderte vergangen waren. Alles, was ihnen auf der Welt bekannt und vertraut gewesen war, war untergegangen. Es war ein Verlust, an den sie nicht mehr ständig dachte, doch wenn sie sich an ihn erinnerte, schmerzte er immer noch tief.
»Was habt Ihr gesehen?«, fragte sie zögernd.
Das Lächeln verschwand aus JaFasees Augen. Er schaute sie ernst an.
»Ich habe ein ängstliches, aber tapferes Mädchen gesehen, eine unfreiwillige Gefangene, die sich nutzlos aufbäumte, aber nicht aufgab. Ich habe ein Geschöpf gesehen, halb Bolg, halb Bengard, der Größe nach zu urteilen, der sie gefangen hielt und ihr gleichzeitig half. Und ich habe noch jemanden gesehen, den ich zu kennen glaubte.« Er zog die Stirn kraus, doch ansonsten änderte sich sein Gesichtsausdruck nicht. »Vielleicht kenne ich Euren Freund, den Bolg-König, aber ich kann mir nicht sicher sein, bis ich ihm nicht begegnet bin.
Jene von uns, die unter der Erdoberfläche lebten, befanden sich in einem Zustand des Halbschlafes. Wenn es mir möglich gewesen wäre, Euch zu helfen, und wenn mir bewusst gewesen wäre, dass Ihr solche Hilfe braucht, hätte ich Euch beigestanden. Aber alles, was ich sah und Euch nun berichte, war für mich wie ein eindringlicher Traum. Noch lange Zeit danach war ich mir nicht sicher, ob es Wirklichkeit oder Vision der Zukunft war, welche den alten Seren oft zuteil werden. Ich möchte mich bei Euch dafür entschuldigen, dass ich nicht in der Lage war, Euch zu helfen, aber es scheint, als ob es das Schicksal gut mit Euch gemeint hätte.«
Die Herrin der Cymrer lächelte schwach. »Ryle hira«, sagte sie leise. Es war ein altes lirinisches Sprichwort.
»Das Leben ist so, wie es ist.«
»In der Tat«, stimmte JaFasee ihr zu. »Ich weiß, dass Euer Lebensweg keinem vorhersehbaren Muster gefolgt ist, doch er hat Euch an Orte geführt, die Ihr ansonsten niemals gesehen hättet, und er hat in Euch Kräfte geweckt, von denen Ihr keine Ahnung gehabt hättet, wenn Eure Zeit auf Erden traditioneller verlaufen wäre. Ihr habt gesagt, dass Euer Lehrer verschwand, bevor Ihr Euer Studium des Benennens abschließen konntet, und Ihr deshalb Eure Ausbildung allein vollendet habt. Vergebt mir, wenn ich es sage, aber das merkt man. Ich hatte die Ehre, viele lirinische Benenner zu kennen, sowohl in Serendair als auch in Gaematria, und es ist deutlich zu sehen, dass Ihr den letzten Schritt ausgelassen habt – die Taufe im Licht des Ana, des Leitsterns eines jeden Benenners.«
Rhapsody errötete vor Verlegenheit. »Ich ... ich weiß nicht einmal, was Ihr damit meint«, sagte sie nervös.
»Es ist nichts, dessen man sich schämen muss, und es ist nicht verwunderlich, dass Ihr es nicht wisst«, meinte JaFasee besänftigend. »Dabei handelt es sich um eine Zeremonie, die das Ende der Studien eines Benenners bedeutet, und sie wird ihm erst dann enthüllt, wenn es an der Zeit für ihn ist. Wenn Euer Lehrer am Ende Eures Studiums nicht bei Euch war, so erstaunt es nicht, dass Euch die Taufe nicht zuteil wurde. Wie Ihr zweifellos wisst, ist die Seele eines jeden Lirin mit dem Stern verbunden, unter dem er geboren wurde, und jeder Tag und jede Nacht des
Jahres ist einem anderen Stern geweiht. Das ist es, was Ihr über Ana denkt, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Rhapsody. »Ich bin unter dem Seren geboren. Meine Gesänge sind immer an ihn gerichtet gewesen.«
Jal’asee nickte. »Ihr habt zweifellos Kraft aus diesem Stern gezogen, auch wenn er eine halbe Welt entfernt ist. Da Ihr Euch selbst unterrichtet habt, hattet Ihr zwar nicht die Gnade der Taufe im Licht Eures Leitsterns, aber Ihr habt andere Stärken entwickelt und andere Einsichten erhalten, weil Ihr Euren eigenen Weg gehen musstet, anstatt dem vorgeschriebenen Pfad zu folgen – so wie Ihr und Eure Gefährten den richtigen Weg innerhalb der Erde gefunden habt. Eure Verbindung zu dem Stern ist dadurch vielleicht noch stärker, weil Ihr Wache für ihn gehalten habt, obwohl er für Euch verloren ist. Wisst Ihr, er ist ein besonderer Himmelskörper und auch für die Maßstäbe des Universums ein alter Stern. Euer Gemahl trägt ein Stück von ihm in seiner Brust. Wie es dorthin gekommen ist, weiß ich nicht, aber ich spüre sein Lied.«
Ein Frösteln durchfuhr Rhapsody. Es war, als kenne Jal’asee nicht nur ihre eigenen Geheimnisse, sondern auch die aller Geschöpfe, die sie liebte. Der Botschafter der Meeresmagier bemerkte den Wandel in ihrem Blick und ergriff ihre Hand mit seinen langen, feingliedrigen Fingern.
»Euer Kind wird mit der Macht aller Elemente gesegnet und geschlagen sein, Rhapsody«, sagte er mit einer Stimme, die so warm wie ein Mittsommertag war. »Ihr seid durch das Feuer im Herzen der Erde geschritten. Habt keine Angst... Natürlich weiß ich das, denn Ihr habt es in Euch aufgenommen, was deutlich zu spüren ist. Was der Rest der Welt irrtümlicherweise für reine Schönheit hält, kann jemand wie ich, der die uranfänglichen Elemente in ihrer Rohform erlebt hat, als das erkennen, was es ist. Ihr und Euer Kind wurdet während Eurer kürzlich erfolgten Entführung in den Armen des Meeres gewiegt. Auch dies weiß ich – nicht weil ich es beobachtet hätte, sondern weil es mir die Wellen während meiner Reise von Gaematria nach hier erzählt haben. Euer Gemahl ist der Kirsdarkenva’ar, der Meister des Elements, also haben beide Eltern eine Verbindung zum Wasser. Auch die Erde ist in Euch beiden in Euch, weil Ihr durch ihr Herz gereist seid, und in Eurem Gemahl, weil er von der Drachin Elynsynos abstammt und auf diese Weise mit der Erde verbunden ist, so wie Ihr mit dem Stern Seren verbunden seid. Und schließlich seid Ihr als lirinische Königin ein Kind des Himmels, eine Tochter der Luft. Daher wird Euer Kind all diese Elemente in seinem Blut haben. Wisst Ihr, was die Summe dieser Elemente ist?«