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Ein Blutopfer zum Aufrechnen gegen das Lebendige Gestein – seine Lebensessenz auf der einen Seite und die der Erde auf der anderen.

Die Waagschalen hatten sich gehoben. Die blutige Schale stieg auf, dann kamen sie ins Gleichgewicht. Das Totem aus Lebendigem Gestein war in einer Rauchwolke zu Asche verbrannt.

Und die Macht der Dynastie der Dunklen Erde war in einem metaphysischen Herzschlag aus den Händen der Kaiserin in die seinen übergegangen.

Später hatte bei der großen Zeremonie nach dem Tod der Kaiserin jeder der Bewerber um den Thron aus den verschiedenen Gruppierungen Sorbolds die Waage von Jierna Tal bestiegen, um sich gegen den Staatsring, das Symbol der Macht, wiegen zu lassen. Jeder, der vor ihm auf die Waagschale gestiegen war, war für unpassend befunden worden, bis schließlich er an der Reihe gewesen war und gut sichtbar für alle Zuschauer von dem heiligen Gerät, das seit Jahrhunderten die wichtigsten Staatsangelegenheiten entschied, hoch in die Luft gehoben worden war. Die Waage und der Segner hatten ihn als Kaiser ausgerufen, doch Talquist war sich der politischen Unsicherheit bewusst, welche die plötzliche Wendung der Ereignisse mit sich gebracht hatte, und hatte deshalb bescheiden angeboten, befristet für ein Jahr als Herrscher ausgerufen zu werden. Falls ihn die Waage danach noch einmal bestätigte, würde er den Kaiserthron besteigen.

Er nutzte die Zeit gut. Die Beschränkungen, die die Kaiserin dem Handel auferlegt hatte, waren verschwunden, und sein Einfluss auf den Seehandel und die abhängigen Arbeitskräfte war sprunghaft gestiegen. Die Arenen und der blutige Kampfsport, der früher von der Krone nur an wenigen Orten geduldet und streng geregelt war, blühten nun im ganzen Land. Sklavenfang auf hoher See und im Süden, in den Niederen Landen, versorgte die Minen und steinigen Bergweinbaugebiete mit dringend benötigten Arbeitern. Die kaiserlichen Schatzkisten waren hübsch gefüllt.

Kurz, das Leben war schön.

Und das alles verdankte Talquist seiner wunderbaren Entdeckung, der Schuppe des Neubeginns mit den angenagten Rändern.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken.

»Herein«, rief Talquist, schloss seine Bücher und steckte die Schuppe zwischen die Falten seiner Robe. Der Kammerherr trat ein. Es war ein Mann mit der typischen dunklen Haut und dem kastanienbraunen Haar der Sorbolder, so wie auch Talquist.

»Mein Herr, ein Abgesandter der Rabengilde aus Yarim bittet um eine Audienz mit Euch unter dem Zeichen des goldenen Gewichts.«

Talquist lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Das goldene Gewicht war ein Losungswort, das nur den Anführern der Gilde bekannt war.

»Bitte ihn herein.«

Der Kammerherr trat zur Seite und gestattete dem Besucher den Eintritt. Der Mann ging durch die Tür wie ein Schatten und vermied instinktiv die Flecken aus verschwommenem Nachmittagslicht, die durch die staubigen Fenster hereinschienen.

Er hielt sich stattdessen an die dunklen Stellen und wurde eins mit ihnen, während er sich bewegte. Er trug die einfache Kleidung eines Reisenden: einen Umhang und eine Hose aus braunem Leinen. Seine dunklen Augen funkelten unter der Kapuze.

Während er sich dem Schreibtisch des Herrschers näherte, legte er den Umhang ab und enthüllte ein totengleiches Gesicht, das von ausgedünntem Haar bekränzt wurde. Lange Koteletten verbanden sich mit einem scharf getrimmten Bart, der seine Wangen wie diejenigen Schatten verdunkelte, durch die er schritt.

»Ich überbringe Euch Grüße von meinem Vetter in den Bergen, Herr«, sagte er. »Ich bin Dranth, der Kronprinz der Rabengilde von Yarim.«

Talquist stand langsam auf, winkte den Mann näher heran und betrachtete ihn eingehend.

Die Losung, die er gesprochen hatte, war noch geheimer und wurde nur in den schwersten Zeiten benutzt.

»Welchem Umstand verdanke ich die Ehre des Besuchs des Gilden-Kronprinzen persönlich?«, fragte Talquist und deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Mein herzliches Beileid zum Tod Eurer Gildenmeisterin.«

Er suchte Dranths Gesicht sorgfältig nach einem Anzeichen von Überraschung ab, weil er von Estens Tod wusste, aber der Mann nickte bloß. »Ich habe sie nie persönlich getroffen, und wir haben keine Geschäfte miteinander gemacht, aber ihr Ruf war mir wohl bekannt.«

»Zweifellos«, erwiderte Dranth trocken. »Mein Herr.« Er setzte sich langsam auf den Stuhl.

»Da Ihr mich unter dem Zeichen des goldenen Gewichts sprechen wolltet, also von Kaufmann zu Kaufmann und von Gildenführer zu Gildenführer, bin ich verpflichtet, Euch auf jede erdenkliche Weise zu helfen, wenn Euer Begehren vernünftig ist. Was wollt Ihr?«

»Eigentlich glaube ich, dass das, was ich Euch bringe, für Euch von Nutzen sein kann, Herr«, sagte Dranth ehrerbietig. Er zog ein in Schafsfell gewickeltes Paket aus den Falten seines Umhangs und legte es vor dem zukünftigen Kaiser auf den Tisch. »Bitte schaut es Euch an.«

Talquist nickte in Richtung des Pakets. »Öffnet es für mich«, sagte er freundlich.

Dranth lächelte. »Gern, auch wenn Ihr von mir keine Fallen oder Gifte zu erwarten habt, Herr. Euer langes Leben und Eure gute Gesundheit sind mir sehr wichtig. Warum, werdet Ihr sogleich sehen.«

Er zog aus dem Paket ein Bündel Dokumente, jedes in der spinnenartigen Handschrift des Mörder-Codes, geschmückt mit Zeichnungen von Tunneln, Bunkern und Brustwehren.

»Die Gildenmeisterin hatte zum Zeitpunkt ihres Todes Aufklärungsarbeit im Firbolg-Königreich Ylorc geleistet«, erklärte Dranth leise. Talquist bemerkte, dass seine Stimme sowohl süß als auch giftig war, wie der Geruch der Mandeln im Arsen. »Sie hatte das Vertrauen des Bolg-Königs erworben und daher unbeschränkten Zugang zu seinem innersten Heiligtum, seinen Geheimnissen und Plänen. Sie hat viele Informationen nach Hause geschickt, einschließlich der Truppenstärke und Schlachtpläne, Tunnel- und Geländepläne, Munitionslager und vielem anderen wichtigen Material.« Er warf die Dokumente vor Talquist auf den Tisch.

»Unter anderem hat sie herausgefunden, dass er plant, gegen Sorbold zu marschieren.«

Talquist schnaubte: »Falls dem so ist, gibt es keinerlei Anzeichen dafür. Die Bolg sind mehr damit beschäftigt, Canrif zu verschönern, als zum Krieg aufzurüsten. Mir scheint König Achmed kein landhungriger Knabe zu sein. Er will, dass wir die Ungeheuer, über die er herrscht, als Menschen ansehen. Deswegen sind ihm Handelsabkommen und Warenaustausch wichtiger als Krieg.«

Dranth nickte nachdenklich. »Welche Waren stellt er her?«

Talquist zuckte die Achseln. »Die Bolg erzeugen eine seltsame, aber bemerkenswerte Mischung von Gütern«, sagte er. »Sie fertigen sehr leichtes, dehnbares Seil, das im Schiffsverkehr beliebt ist. Auch spinnen sie feine Damenhosen, was mich immer sehr amüsiert hat. Eine Holzart aus ihren inneren Wäldern hinter den Bergen hat einen leichten Blaustich in der natürlichen dunklen Färbung und wird besonders in Übersee stark nachgefragt.«

»Außerdem stellen sie Waffen her«, bemerkte Dranth. »Außerordentlich wirksame und tödliche Waffen.«

»Ja.«

»Aber während sie mit Euch Handelsabkommen haben, nach denen Ihr ihre Seile, ihr Holz und ihren Wäschemist kaufen und vermitteln dürft, verkaufen sie Euch ihre Waffen nicht.« Dranth lächelte eisig. »Oder etwa doch?«

Talquist schaute den Gildenführer lange an, blickte dann auf seinen Tisch und grinste.

»Was für eine Rechnung habt Ihr mit den Bolg zu begleichen?«, fragte er schließlich, während er mit dem Finger über die Holzmaserung fuhr.

»Der Tod unserer Meisterin«, antwortete Dranth.

»Sonst nichts?«

»Nein. Sie suchte Rache wegen einer anderen Angelegenheit, wegen des Diebstahls von Wasser, aber das ist nicht mehr von Bedeutung. Die Rabengilde hat geschworen, ihren Tod zu rächen. Das ziehen wir allem anderen vor und scheuen keine Ausgaben, keine Kosten irgendwelcher Art, bis zum Ende der Zeit, wenn es sein muss.«

Talquist kicherte. »Junge, Junge. Das ist wirklich eine bemerkenswerte Haltung.« Er schaute in das ernste Gesicht des Gilden-Kronprinzen, und sein Lächeln verdüsterte sich ein wenig. »Wenn Ihr zu Eurer Rache meine Hilfe haben wollt, hättet Ihr nur unter dem Zeichen des goldenen Gewichts um sie bitten sollen. Es ist gar nicht nötig, dass ich Eurer Blutrache zustimme; wichtig ist nur, dass sie meinen eigenen Interessen nicht zuwiderläuft.« Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. »Und das ist nicht der Fall.«