Talquist setzte die leinene Kapuze seiner Herrscherrobe auf. »Und nun, Dranth, geht mit dem Kammerherrn und ruht Euch ein wenig aus. Morgen früh werden wir Pläne schmieden, doch zuvor muss ich mich noch um andere Dinge kümmern. Ein Monstrositätenkabinett ist in der Stadt, und ich erhalte eine Privatvorstellung. Ich liebe solche Seltsamkeiten. Gute Nacht.«
16
Der Sonnenuntergang färbte den Horizont an seinem östlichen Rand kobalt- und indigoblau, und dort, wo das Licht den Himmel noch im Westen berührte, war er türkisfarben. Talquist sog gierig die Abendbrise ein; die Luft wurde bei Anbruch der Nacht und mit dem Wechsel der Jahreszeiten in den nördlicher gelegenen Ländern immer kühler. In der sorboldischen Wüste bestand der Herbst hauptsächlich aus einem etwas frischeren Wind am Morgen und Abend. Ansonsten brannte die endlose Wüstensonne unablässig weiter und verwandelte das trockene Land allmählich zu Sand.
Von seinem Balkon sah er die Lagerfeuer des Zirkus, die Licht und dünne Rauchwölkchen in den Himmel schickten. Es war eine Einladung an ihn – nur an ihn allein. Er seufzte.
Es hatte eine Zeit gegeben, als er nichts als ein mächtiger Kaufmann gewesen war und es ihm keine Schwierigkeiten bereitet hatte, seine dunkelsten Phantasien in einem solchen Wanderzirkus auszuleben. Nun aber, da er der Welt als zukünftiger Kaiser von Sorbold bekannt war, durfte er höchstens belustigt zwischen den Wagen umherschlendern, aber keinesfalls an den sündigeren Genüssen teilhaben, die es hier auch gab. Eine Schande, dachte er, als er von dem Fenster zurücktrat und über die Treppe dem wartenden Zirkus entgegenging. Anschauen, aber nicht anfassen. Also gut.
Als er am Zirkustor ankam, wartete der Direktor bereits auf ihn.
»Eure Exzellenz«, grüßte er und verneigte sich tief. Seine gestreifte Seidenhose dehnte sich dabei grotesk.
»Also bitte, Gart, du und ich arbeiten doch schon seit vielen Jahren zusammen«, tadelte Talquist ihn. »Wir hatten gute Zeiten, und manchmal haben wir in lebensgefährlichen Situationen dem anderen den Rücken freigehalten. Es besteht kein Grund, jetzt so formell zu sein, wo ich, nun ja, Kaiser bin. Du darfst mich mit >mein Herr< anreden.«
»Ja, mein Herr«, murmelte der Zirkusdirektor und öffnete das Tor.
Er folgte dem zukünftigen Kaiser durch dunkle Wege, in Zelte hinein und wieder aus ihnen heraus, während Talquist das seltsame menschliche Inventar bewunderte. In einem Zelt hielten sie vor einer kleinen Frau mit mandelförmigen Augen, die auf einem winzigen Stuhl saß und einen gewaltigen Kragen um den Hals trug. Die Frau erkannte Talquist und erzitterte heftig, worauf die beiden Männer laut lachten.
»Ach, die Gwadd! Ich hatte sie völlig vergessen«, sagte Talquist. Er beugte sich vor. Die kleine Frau wich entsetzt zurück. »Kein Grund zur Sorge, kleine Süße«, murmelte er. »Ich fürchte, ich bin inzwischen so wichtig geworden, dass ich nicht mehr mit dir spielen darf.« Er wandte sich an den Zirkusdirektor, während sie weiter durch die Ausstellung liefen. »Wenn du zurück nach Roland gehst, solltest du vorsichtig sein, damit der cymrische Herrscher nicht bemerkt, dass du sie hast. Die Gwadd sind eigentlich keine Missgeburten. Es sind Leute aus der alten Welt – eine uralte Rasse, die mit dem cymrischen Exodus gekommen ist. Deswegen ist sie eigentlich seine Untertanin. Wenn er sie in deinem Zirkus entdeckt, wird er sie befreien und dich ins Gefängnis stecken.«
»Wie sollte der hohe Herr Gwydion das erfahren, es sei denn, er bucht eine Vorstellung im Monstrositätenkabinett?«, fragte der Zirkusdirektor verächtlich. »Meine Zuschauer haben keine Einladung zum Essen in Haguefort, bei dem sie ihm meine Geheimnisse verraten könnten.«
»Das ist nur allzu wahr«, pflichtete Talquist ihm bei und stellte sich vor einen zerbrechlichen Glastank, in dem eine fließende Masse verschrumpelten menschlichen Fleisches im Wasser schwamm. »Das hier ist neu. Was ist das für eine Missgeburt?«
»Wir nennen sie den Wundersamen Fischjungen«, erklärte der Zirkusdirektor und klopfte gegen das Glas, um die Kreatur zu wecken. »Wie Ihr seht, könnte es genauso gut das Erstaunliche Fischmädchen sein. Wir wissen eigentlich nicht, was es ist. Ich habe es zwei schwachsinnigen Fischern aus Avonderre abgekauft.«
»Hat es einen Namen?«, fragte Talquist und spähte tiefer in das schlammige grüne Wasser.
Der Zirkusdirektor zuckte die Achseln. »Entenfuß-Emmi nennt es Faron«, sagte er.
Die Kreatur im Tank erwachte und erkannte den Zirkusdirektor. Sie zischte drohend. Aus den Rändern des gummiartigen, in der Mitte über den weichen, gelben Zähnen zusammengewachsenen Mundes, floss das Wasser in unmissverständlichen Strömen der Wut.
»Guter Gott«, rief Talquist aus und kicherte. »Was für ein Grauen!«
Das Geschöpf zischte erneut, schwamm herbei und streckte die Klauen nach dem Zirkusdirektor aus. Hass lag in seinen trüben Augen.
»Er scheint dich zu mögen«, sagte Talquist belustigt und hob die Hand zum Schutz vor dem Speichel der Kreatur, die sich gegen das Glas drückte und nach dem Zirkusdirektor griff.
Im Licht der Zeltlaterne bemerkte er das Aufblitzen von schillerndem Licht. Es war ein rasch vergehendes Glitzern im Bauch der Kreatur, als sie den Zirkusdirektor mit ihren weichen Armen zu packen versuchte. Talquist blinzelte, weil er glaubte, der Wind habe ihm vielleicht nur ein Sandkorn ins Auge getrieben. Dann schaute er sich den Unterkörper des Wesens genauer an.
Er musste einige Zeit angestrengt hinsehen, denn die Lagen aus fettlosem Fleisch schaukelten im Wasser, doch schließlich bemerkte er es erneut. Zwischen den Hautfalten stachen Stacheln hervor, als ob sie dort versteckt worden wären. Die Spitzen der ovalen Schuppen sahen so aus wie die violette, die sich in seinem Besitz befand. Talquist spürte, wie kalte Erregung durch seinen Körper strömte. Das Blut floss von seinem rasch arbeitenden Hirn zum Herzen, das noch rascher arbeitete und ihn schwächte und ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Er hüstelte, um seine Erregung zu verbergen. »Wo haben die Fischer dieses ... dieses Ding gefunden?«, wollte er wie beiläufig wissen und versuchte dabei seine Stimme ruhig zu halten.
Der Zirkusdirektor zuckte die Schultern. »Das haben sie nicht gesagt. Vielleicht hatte es sich in irgendeinem Netz verfangen. Wenn ich Euch weiter bitten darf, mein Herr, ich möchte Euch unseren neuen Menschenfresser zeigen.« Er ergriff die Klappe des Zeltausgangs.
»Warte«, sagte Talquist. Seine Stimme war härter geworden. Er starrte weiterhin auf die Kreatur im Tank. Nun wich sie von der Scheibe zurück, drehte sich um und schaute den Zirkusdirektor böse über die skelettartige Schulter an.
Gart ließ die Zeltklappe los und trat wieder neben den Herrscher, in dessen Augen es glitzerte.
»Es ist eine wirklich beeindruckende Missgeburt«, sagte er mit ehrlicher Bewunderung im Blick. »Auf all meinen Reisen habe ich nichts derart Groteskes und Scheußliches gesehen, was noch gelebt hätte. Es war ein unverhoffter Glücksfall. Unser Einkommen hat sich gewaltig erhöht, seit ich ihn gekauft habe.«
»Ich will ihn haben«, sagte Talquist leidenschaftlich. »Nenn mir seinen Preis.«
Diese Worte machten den Zirkusdirektor sprachlos. Er lachte kurz auf, als ob man ihm den Bauch gekitzelt hätte.
»Das meinst du nicht ernst«, sagte er und vergaß völlig, dass er mit dem zukünftigen Kaiser sprach.
»Ich meine es völlig ernst«, beharrte Talquist. »Ich gebe dir das Zehnfache dessen, was du für ihn bezahlt hast.«