Die Kreatur im Griff des Soldaten zischte und schlug schwach um sich, doch sie war kein Gegner für die Männer in Rüstung. Sie trugen die kämpfende Masse die Stufen hoch zu der Waage und legten sie auf die leere westliche Schale. Dann streckten sie Farons gebogene Arme aus und drückten sie mit Sandsäcken zu Boden. Als die Kreatur schließlich den Kampf aufgegeben hatte, zogen sich auch die Soldaten zurück und ließen Lasarys, die beiden Diener und Talquist auf dem Platz allein. Ihre Schritte verhallten in der Leere. Einen Moment später hörten sie das ferne Klappern von Karrenrädern, als der Wagen mit den Dienern über das Kopfsteinpflaster der Stadt zum am Berg gelegenen Kloster neben dem Haus des Hauptpriesters fuhr.
Stille kehrte wieder ein auf den Straßen von Jierna’sid.
Der Herrscher von Sorbold stieg langsam die Stufen zu dem uralten Gerät, dem Ort des Wiegens hoch, an dem die goldenen Schalen seit vielen Jahrtausenden in diesem Land und dem davor Entscheidungen über Leben und Tod, Krieg und Frieden, das Überleben von Nationen und den Untergang von Tyrannen getroffen hatten.
»Lasarys«, sagte er sanft, »wickle die Statue aus.«
Einen Augenblick blieb der Hauptpriester wie erstarrt stehen, doch dann nickte er zögerlich den beiden Dienern zu. Gemeinsam entfernten die drei heiligen Männer die feuchten Leinentücher, während Talquist gebannt auf die Waagschalen starrte.
Unter der Leinenabdeckung war die Statue noch warm vom Herzschlag der Erde im Lebendigen Gestein. Das weiche Lehmfleisch pulste unter einem statischen Summen. Die äußersten Enden, die Biegungen der Schuhe, das grob behauene Schwert in der rechten Hand und die Spitzen des Rüstungshandschuhs an der leeren Linken wurden allmählich hart und leblos, doch ansonsten war es noch feucht, war noch vielfarbener Lehm, der zu einem großen Mann mit schwerem, steinernem Gesicht und irislosen Augen geformt war, die blind in den Nachthimmel starrten.
Sobald die Statue entblößt war, stellte sich Talquist still vor die Priester und schaute hinab auf das gewaltige Stück Lebendigen Gesteins. Er fuhr sanft und beinahe liebevoll mit der Hand über die massigen Schultern. Sein Gesicht zeigte eine Erregung, die schon beinahe an heilige Entrückung grenzte.
»Stell dir vor, Lasarys«, flüsterte er, »stell dir vor, was alles hier erreicht werden kann. Ich plane dies schon seit der Zeit vor meiner Thronbesteigung. Als ich die Soldaten zum ersten Mal sah, wusste ich, dass in jedem von ihnen die Macht eines ganzen Heeres steckt. Ich bin der Bewahrer der Schuppe des Neubeginns. Verstehst du nicht, Lasarys, dass diese Dinge zusammengefügt werden müssen? Das ist der Schlüssel zu allen Plänen, die ich je geschmiedet habe, seit ich die Macht der violetten Schuppe entdeckte. Was ist, wenn die Waage die Lebensessenz einer nutzlosen Missgeburt, eines kaum lebendigen Stücks Fleisch zu nehmen und sie in diesen Steinsoldaten zu überführen vermag? Könnte er lebendig vor meinem Palast Wache stehen, reglos, aber beseelt, wäre er ein wunderbarer Wächter und eine furchtbare Abschreckung für jeden, der versuchen sollte, mit bösen Absichten in den Palast einzudringen. Und wenn er sich bewegen könnte – wenn er sich bloß bewegen könnte! Er wäre die vollkommene Waffe – ein Steinblock, der völlig unter meinem Befehl steht und vielleicht dieselben einfachen Kommandos begreift wie das Wesen, dessen Leben geopfert wurde, um ihn zu beleben? Stell dir ein ganzes Heer vor – jede Statue von Terreanfor abgeerntet und zum Leben erweckt? Nicht nur die zwanzig in der Kathedrale, sondern die hundert, vielleicht tausend unten in der Stadt der Toten. Stell dir einmal vor ...«
»Das ist Ketzerei, Herr«, erwiderte Lasarys flüsternd. »Ich sage Euch, Ihr wisst nicht, was Ihr tut. Die Eigenschaften des Lebendigen Gesteins sind uns fast völlig unbekannt. Er ist ein Geschenk des Schöpfers, ein uranfängliches Element, ein seltener Schatz ...«
»Geh mir aus dem Weg, Lasarys«, sagte Talquist ungeduldig, drückte den Hauptpriester beiseite und lief hinüber zu der anderen Waagschale, auf welcher die bleiche, schlaffe Gestalt der Missgeburt ausgestreckt lag, die er heute Abend gekauft hatte.
»Guten Abend, Faron«, sagte er freundlich und bemerkte, wie sich Erkennen in den Blick der Kreatur stahl.
»Kannst du mich verstehen?«
Die von Adern durchzogenen Lider des Fischjungen schlössen sich über den trüben Augäpfeln. Es war, als ob er blinzle, aber eine andere Antwort gab er nicht.
Wie ich vermutet habe, dachte Talquist. Nur tierische Intelligenz. Es reagiert wie ein Hund auf seinen Namen und beherrscht vielleicht auch einfache Kommandos. Gut.
Er untersuchte die schweren Hautschichten, die sich um den Bauch des Geschöpfes in Falten gelegt hatten. In ihnen steckten drei Spitzen aus hartem, vielfarbigem Material, an dem getrocknetes Blut klebte.
»Das muss sehr wehtun«, sagte er besänftigend zu der Missgeburt auf der Waagschale vor ihm, während er sacht mit dem Finger über die Falten fuhr. »Erlaube mir, sie für dich zu entfernen.«
Er hob vorsichtig eine Hautfalte und zog die erste Spitze heraus. Wie er erwartet hatte, handelte es sich um eine Schuppe ähnlich seiner eigenen. Sie hatte dieselbe graue Färbung, blitzte aber gelblich auf, als sie aus dem Bauch des Geschöpfs glitt. Faron jammerte gequält, doch Talquist ließ sich nicht ablenken. Er entfernte auch die beiden anderen Schuppen, die alle denselben Ursprung hatten, und schenkte dem Zittern der Kreatur, aus der sie gekommen waren, keine Beachtung. Er hielt sie gegen das Licht der Fackeln auf dem Platz.
Die ausgefransten Ovale hatten dieselbe Mischung aus Grau und Farbe wie seine eigene hoch geschätzte Schuppe und waren mit winzigen geometrischen Mustern durchsetzt, sodass sie wie die Haut eines Reptils wirkten. Wenn sie den Feuerschein einfingen, brachen sie das Licht wie ein Prisma; es schien, als wären alle Farben des Spektrums in ihnen enthalten, doch jede hatte eine Hauptfärbung. Die eine war gelb, die andere rot und die dritte blau wie ein Veilchen. Jede trug eine grobe Einritzung; es waren Runen eines Alphabets wie auf seiner eigenen Schuppe, und auch diese konnte er nicht lesen.
Vor vielen Jahren hatte er die Schrift auf der violetten Schuppe übersetzt, nachdem er einen Schlüssel zu dieser Sprache, dem Altserenischen, im staubigen Museum von Haguefort gefunden hatte, dem Stammhaus Stephen Navarnes, des cymrischen Historikers. Auch hatte er eine Zeichnung seiner eigenen Schuppe entdeckt, und zwar in dem Fragment eines alten Buches, das den Titel Das Buch allen menschlichen Wissens getragen hatte und aus dem Meer gerettet worden war. Den größten Teil hatte das Salzwasser zerstört, doch in den wenigen übrig gebliebenen Seiten hatte er von einer Art Kartenspiel gelesen, das einer serenischen Seherin namens Sharra gehört hatte. Damals war er zu der Überzeugung gelangt, dass seine Schuppe, wie er sie nannte, Teil dieses Spiels war. Es hieß, dass es in der Hand eines Erstgeborenen, die unmittelbar von den uranfänglichen Elementen abstammten, die Macht hatte, Dinge zu zeigen, die das Auge nicht sehen konnte, Wunden zu heilen, die ansonsten unheilbar waren, und Dinge zu ändern, die ansonsten unwandelbar waren.
Unvorstellbare Macht.
Das ist das Spiel, dachte er. Seine Hände schwitzten vor Erregung. Diese Schuppen müssen ein Teil von Sharras Spiel sein.
Das Geschöpf auf der Waagschale zischte ihn wütend an.
»Woher hast du sie, Faron?«, fragte Talquist; es klang, als rede er mit sich selbst. Er griff zwischen die Falten seiner Robe, holte die violette Schuppe hervor und hielt sie mit den anderen gegen das flackernde Licht. Die milchigen Augen der Kreatur weiteten sich.
Alle Schuppen passten zusammen.
Talquists Hände wurden warm. Zuerst hielt er es für eine Auswirkung seiner Erregung, des Schweißes und des wilden Herzschlags. Doch dann erkannte er, dass diese Hitze aus den Schuppen selbst hervorging, als zapften sie gemeinsam eine verborgene Quelle von Hitze und Feuer an.