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Sie erkennen einander.

»Lasarys«, sagte Talquist leise, »gib mir deinen Zeremonialdolch.«

»Aber Herr ...«

Der Herrscher streckte gebieterisch den Arm aus und hielt die offene Handfläche nach oben.

Lasarys seufzte, zog seinen Dolch aus poliertem Obsidian hervor und legte ihn mit Bedauern in Talquists Hand.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte der zukünftige Kaiser. Sein Ton ließ keine Widerrede zu. »Geh essen und kehre mit deinen Geistlichen in das Kloster zurück. Du hast mir gut gedient.«

Lasarys und die priesterlichen Diener wechselten einen raschen Blick und eilten fort vom Platz des Wiegens. Dominikus und Lester liefen auf die Tür zu, durch welche die übrigen Geistlichen geführt worden waren, doch Lasarys hob die Hand und hielt sie schweigend auf. Er warf einen Blick über die Schulter. Als er bemerkte, dass sie unbeobachtet waren, führte er sie zu einem verborgenen Ort neben der Palastmauer, von wo aus sie den Fortgang der Scheußlichkeiten überblicken konnten.

Der Herrscher legte die drei Schuppen auf den Bauch des Geschöpfs und steckte seine eigene zurück zwischen die Falten seiner Robe. Er ergriff das Messer und hielt es hoch, dann senkte er es über Farons Herz. Im Schatten schauten der Hauptpriester und seine Diener entsetzt zu, wie Talquist vorsichtig die Haut der Missgeburt mit der scharfen Klinge ritzte und sie dann in die Linie aus schwarzem Blut tauchte. Sodann ging er zurück zu der Waagschale, auf welcher der Steinsoldat lag, und stellte sich mit dem Messer in der Hand über ihn. Er ließ einen schwarzen Tropfen nach dem anderen auf die Schale fallen und schenkte dem Jammern aus dem grotesken Mund der Kreatur auf der anderen Schale keinerlei Beachtung.

Jeder Tropfen fiel mit einem klingelnden Laut herab.

In der Dunkelheit leuchteten die Waagschalen auf; die Ketten am Arm des Geräts nahmen das Licht ebenfalls an. Langsam hob sich die Schale mit der schweren Steinstatue und tarierte sich gegen die Schale mit der hilflosen Kreatur aus.

Durch Tränenschleier beobachteten die Priester bleich und schweißnass vor Ekel, wie der Soldat aus Lebendigem Gestein und der verdrehte Körper des Geschöpfes schmerzlich hell erglühten. Das Licht wurde mit jeder Sekunde heller und strahlender, bis es unerträglich geworden war. Lasarys, Lester und Dominikus beschirmten sich die Augen, als die missgestaltete Kreatur auf der einen Schale in dunkle Flammen aufging, in ein schwarzes Feuer, das schrecklich stank und schließlich zu Asche verbrannte.

Die Schalen tarierten sich weiter aus.

Dann schlug die östliche Schale auf den Boden. Die westliche flog nach oben, und die Überreste der Kreatur schössen in einem plötzlichen Blitz in die Luft, wurden vom Nachtwind erfasst und trieben davon.

Das Licht verschwand, und der Platz von Jierna’sid wurde wieder in das nur von Fackeln erhellte Dunkel getaucht.

Zuerst gab es kein Anzeichen von Leben.

Talquist stand wie angewurzelt am Fuß der Waage. Sein Blick glitt von der reglosen Statue auf der östlichen Schale zu der leeren westlichen, in der nun nicht einmal mehr Asche lag.

Nach einem Augenblick aber erzitterte der riesige Soldat heftig und stieß den Atem aus.

Die pulsierenden Farbstreifen wurden dunkler, als die Statue ihren ersten Atemzug tat, und das Purpur und Zinnoberrot, das Grün und Rostrot nahmen den Glanz des Lebens und Atmens an.

Die Augen, die keine Lider hatten, um die steinernen Pupillen zu schließen, blinzelten.

»Ehre sei der Erdenmutter«, flüsterte Talquist.

Die Glieder der Statue dehnten sich unbeholfen. Langsam bewegte sich der schwertlose Arm; der Soldat hob die leere Hand vor das grob behauene Gesicht. Die Finger drehten sich nach innen und streckten sich dann mühsam.

»Steh auf«, befahl Talquist.

Die Statue wandte langsam den Kopf dem Herrscher zu.

»Ich sagte, steh auf«, wiederholte Talquist mit harscherer Stimme. Ihm kam ein Gedanke, und obwohl er sich dabei dumm vorkam, sprach er den Namen des Geschöpfs aus, dessen Leben der Statue geopfert worden war.

»Faron.«

Der Soldat drehte ruckartig den Kopf in Talquists Richtung.

Der Herrscher seufzte enttäuscht. Da er die Macht der Waage und des Lebendigen Gesteins nicht richtig verstand, hatte er gehofft, das Blut des Geschöpfs werde die steinerne Inkarnation des Kriegers aus dem Volk der Eingeborenen des alten Kontinents erwecken. Stattdessen schien es so zu sein, dass das steinerne Wesen eine Verkörperung der Missgeburt selbst war, die er dem Zirkus abgekauft hatte und die so hirnlos wie ein Fisch war. Doch seine Enttäuschung schwand rasch, als er sah, wie die Statue erneut die Arme reckte. Beim nächsten Mal werde ich einen Menschen mit einem guten und fähigen Hirn opfern, dachte er. Der Anblick des zehn Fuß hohen, aus Lehm geformten, atmenden und sich bewegenden Soldaten erfreute ihn dennoch.

Die Statue rollte plötzlich zur Seite und fiel schwer von der Waagschale auf die Planken des Gerüstes, auf dem die Waage stand. Sie rollte sich wie ein Kind im Mutterleib zusammen und schabte mit der Schwerthand über die Bohlen, als wolle sie die steinerne Waffe loswerden.

Talquist trat vor, blieb aber sofort stehen, als der gewaltige Soldat mit der rechten Hand heftig gegen die Bretter schlug. Er kratzte mit einer Eindringlichkeit an dem Steinschwert, die Talquist die Kehle zuschnürte.

»Nein, Faron, das ist ein Schwert. Es ist in Ordnung. Versuch nicht, dich zu entwaffnen ...«

Die gigantische Gestalt schälte mit der rechten Hand das Schwert aus der linken.

»Faron ...«

Mit einem brutalen Griff riss sich die Statue das Steinschwert aus der Hand und warf es Talquist quer über die Plattform entgegen. Der Herrscher sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite. Dann kam der Soldat aus Lebendigem Gestein langsam auf die Knie.

Talquist sah mit wachsender Besorgnis zu, wie der Riese aufzustehen versuchte. Er schien zu glauben, dass seine Glieder weich und biegsam wären. Er erinnert sich an seine alte Gestalt, dachte er, als sich die Statue auf die Beine zog. Sie griff nach unten und versuchte unbeholfen die Schalen zu fassen. Mehrfach fielen sie ihr aus der Hand.

»Faron, ich befehle dir, damit aufzuhören!«, rief Talquist.

Die lebendige Statue hielt kurz inne und starrte mit lidlosen Augen auf die Schuppen in ihrer Hand. Dann taumelte sie schwerfällig auf die Treppe zu. Die drei Schuppen hielt sie fest umschlossen.

Talquist hob die Hände und wollte Faron aufhalten, doch als er erkannte, dass der Titan ohne ein Zeichen des Abbremsens auf ihn zuhielt, schoss er gerade noch rechtzeitig aus dem Weg, damit er nicht unter Farons Füßen zertreten wurde. Der Titan taumelte die Treppe hinunter und trampelte über das Kopfsteinpflaster, bis er stolperte und schwer zu Boden ging. Wieder rollte er sich zusammen, als sei er sich seiner Beine unsicher, doch dann stand er langsam auf und warf einen gewaltigen Schatten im schwachen Licht der Fackeln.

»Faron!«, rief Talquist erneut, aber nicht mehr so laut. Seit er die Steinmuskulatur gesehen hatte, wurde seine Stimme von Angst erstickt.

Aus einer der Seitenstraßen des Platzes drang das Geräusch von Stiefeln auf Stein. Eine Einheit aus vier Soldaten rannte herbei; jeder rief dem anderen etwas zu. Vor dem Schatten der hoch aufragenden Statue blieben sie wie erstarrt stehen.

»Nein!«, rief Talquist, doch Faron setzte sich bereits in Bewegung und rannte auf die Soldaten zu. »Geht ihm aus dem Weg!«, kreischte er.

Zwei der Soldaten gehorchten blind und hasteten auf die Palastmauern zu. Ein anderer zögerte kurz und warf sich dann hinter einen Wagen. Der vierte stand wie angewurzelt da. Er hob seine Hellebarde mit zitterndem Arm. Der Titan aus Lebendigem Gestein drückte ihn gegen die Mauer des Palastes, als wäre er nichts als ein Haufen Lumpen. Ein schreckliches Knirschen hallte durch die Straßen, als der Körper auf die Wand traf und die Knochen brachen.

Die belebte Statue hielt nicht an; sie wurde immer schneller; ihre weiten Schritte gingen in einen raschen Lauf über. Sie eilte durch die Straßen und der Stadtmauer entgegen, verschmolz mit der Dunkelheit und rannte auf die Berge zu, welche die Stadt umgaben.