Benommen stand Talquist auf und starrte in die Schatten. Er versuchte ein Anzeichen des Titanen auszumachen, sah aber nichts als Nacht und Fackeln, die bereits stark heruntergebrannt waren. Er stierte in die Ferne, bis sich der Anführer der Einheit vor ihn kniete. Hinter ihm trugen die beiden Überlebenden den zerschmetterten Leichnam des vierten Soldaten.
»Herr?«
»Ja?«, fragte Talquist kühl.
»Was war das?«
»Eine schlechte Idee«, murmelte der zukünftige Kaiser und fuhr mit der Stiefelspitze an dem großen irdenen Schwert entlang, das sich die Statue aus der Hand gerissen hatte. Der Lehmrand brach ab und rieselte wie Sand auf das Straßenpflaster.
Er starrte weiterhin die leere Straße hinab. »Und eine schreckliche Verschwendung. Die Ernte des Lebendigen Gesteins zerbröckelt nutzlos zu Staub.« Schließlich drehte er sich heftig um, als wolle er Schlaf abschütteln, und schaute auf den Leichnam zu seinen Füßen.
Zu den beiden Soldaten, die ihren toten Gefährten trugen, sagte er: »Bringt ihn ins Kloster von Terreanfor. Legt ihn dort auf die Treppe.« Er schaute den Anführer unmittelbar an. »Sind alle heiligen Männer zurück in Kloster und Sakristei?«
»Ja, Herr.«
»Gut. Sobald ihr den Leichnam abgeladen habt, kehrt ihr in die Kaserne zurück. Die Diener werden sich um die Beerdigung kümmern. Sprich mit niemandem über das, was du gesehen hast; ansonsten wirst du hingerichtet. Sag das auch den anderen. Wenn mir die Sache zu Ohren kommt, weiß ich, woher.«
»Ja, Herr.« Der Soldat verneigte sich und beeilte sich, zu den beiden anderen aufzuschließen.
Sobald die Soldaten außer Sichtweite waren, ging Talquist zum Tor von Jierna Tal und rief den Hauptmann seiner Leibwache herbei.
»Sind Kloster und Sakristei mit Öl und Magnesium vorbereitet worden?«
Der Hauptmann nickte schweigend.
»Gut. Es sind jetzt drei Soldaten mit dem Leichnam eines vierten dorthin unterwegs. Sobald die Soldaten den Körper auf die Stufen des Klosters gelegt haben, entzündet ihr das Öl.«
Der Hauptmann schluckte, zeigte ansonsten aber keine Reaktion. »Was ist, wenn sie irgendwie in die Explosion geraten?«
»Treibt sie mit Pfeilfeuer zurück.«
Der Hauptmann, der an solche Befehle gewöhnt war, nickte bloß. »Auch die heiligen Männer? Das heißt, falls sie das Feuer überleben sollten.«
Talquist schüttelte den Kopf. »Sie sind schon tot. Das Gift aus dem Essen müsste inzwischen wirken. Ich will, dass es keine Zeugen und keine Spuren gibt. Es wird sie nicht geben, denn Magnesium brennt heißer als die Flammen der Unterwelt. Ein tragisches Feuer. Der Seligpreiser wird sicherlich in großer Trauer sein. Vielleicht wird er dafür sorgen, dass seine Gefolgsleute hiernach sicherere Unterkünfte erhalten.«
Der Hauptmann der Wache verneigte sich und zog sich zurück.
Talquist blieb noch bis zum Morgen auf dem Platz von Jierna’sid stehen. Er suchte mit dem Blick die Berggipfel nach einem Anzeichen des Titanen ab, sah aber nichts als die rosafarbenen Strahlen der Dämmerung, die ihr Licht über die gewaltige Wüste ergossen, und hörte nichts als den Herbstwind, in dessen Jaulen sich keinerlei Worte verbargen.
Als der Platz des Wiegens endlich ganz leer war, als das Licht im Herrscherturm von Jierna Tal gelöscht wurde und nur das schwächste Glühen der bis zum Ende des Dochts heruntergebrannten Straßenlaternen übrig geblieben war, krochen der Hauptpriester von Terreanfor und seine beiden überlebenden Hilfspriester aus den Schatten. Sie zitterten noch genauso wie in den letzten Stunden.
Sie standen schweigend da und beobachteten, wie die Flammen die fernen Hänge des Nachtberges erleuchteten. Ihr Heim brannte. Schließlich berührte Lester mit bebender Hand den Arm des Hauptpriesters.
»Was sollen wir jetzt tun, Vater?«, flüsterte er. Seine Stimme klang viel jünger, als er war.
Lasarys starrte auf den Widerschein der Flammen und war in Gedanken verloren. Schließlich traf sein Blick den des jungen Priesters.
»Wir müssen nach Sepulvarta in die heilige Stadt gehen«, sagte er leise und vergewisserte sich, dass niemand sie sah. »Dort ist der Seligpreiser. Wir müssen Nielash Mousa finden und ihm berichten, welch schreckliche Dinge wir mit angesehen haben. Aber wir müssen vorsichtig sein. Talquists Spione sind überall.«
»Sepulvarta ist einen Wochenritt entfernt«, sagte Dominikus mit tiefer Stimme. »Wie sollen wir es bis dahin schaffen? Wie sollen wir die Wüste ohne Vorräte und Hilfe durchqueren? Wir werden sicherlich sterben oder, schlimmer noch, entdeckt werden.«
»Nicht, wenn wir besonnen und vorsichtig sind«, antwortete Lasarys. »Talquist glaubt, wir seien tot. In den Augen der Welt müssen wir es sein – wenigstens bis wir mit dem Segner von Sorbold gesprochen und ihn in Kenntnis darüber gesetzt haben, was in dieser schrecklichen Nacht passiert ist.«
Er zog die Kapuze seiner Robe gegen den bitteren Sandwind hoch. Sofort folgten die anderen beiden seinem Beispiel. Dann führte er sie in die dunklen Gassen von Jierna’sid und in die gewaltige Wüste hinter der Stadt.
19
In jüngeren Jahren hatte Gwydion Navarne den Winterkarneval geliebt.
Das Fest war eine Tradition, die sein Großvater begründet und sein Vater fortgesetzt hatte und die einen doppelten Zweck verfolgte. Zum einen wollten die Herrscher einen Festtag mit der Bevölkerung der Provinz begehen, und zum anderen war es ein Tag, an dem sich die Führer der beiden Religionen – der filidischen Naturreligion von Gwynwald und der patriarchalischen von Sepulvarta – trafen, um gemeinsame Riten zur Wintersonnenwende durchzuführen. Der Umstand, dass dieses Fest um Gwydions Geburtstag herum stattfand, hatte es für ihn zu etwas Besonderem gemacht, zumindest in seiner Kindheit. Nach dem Mord an seiner Mutter, als er acht Jahre alt gewesen war, hatte er rasch begriffen, dass selbst ein fröhliches und ausgelassenes Fest eher eine Verpflichtung als eine Freude darstellte, wenigstens was den Gastgeber anging.
Stephen Navarne, sein Vater, hatte den Karneval sogar noch mehr geliebt als sein Sohn. Es lag etwas in dem Fallen des ersten Schnees, das Stephens fröhliche Natur noch freudiger gemacht hatte. Gwydion erinnerte sich gern an den Klang der Trompetensalven am Morgen nach den ersten Schneeflocken, die den Beginn des Winters anzeigten. Stephens Aufregung war ansteckend gewesen, selbst für üblicherweise brummige Hausdiener, die ein wenig mehr Schlaf den Hörnerstößen des Hausherrn vorgezogen hätten, welche überdies noch wegen etwas geschmettert wurden, das man sowieso nicht verhindern konnte. Am Morgen des ersten Schnees sah man jedoch jedermann freundlich und mit neuer Kraft herumeilen und sogar bei der Arbeit lachen. Zu Stephens Zeiten war der Winterkarneval das fröhlichste Ereignis im Jahr gewesen, an dem religiöse Zwiste, Grundstücksstreitigkeiten und anderer Zank und Hader zum Wohle von Harmonie, friedlichem Wettstreit und Spaß beiseite gelegt wurden. Am Tag des ersten Schnees wurde der offizielle Wettkampf des Jahres bekannt gegeben. Manchmal war es eine Schatzsuche, manchmal ein Wettbewerb in Eishauerei, ein Dichterstreit oder ein Hindernisrennen. Dazu kamen traditionelle Sportarten, Glücksspiele, Sangeswettstreite, über die Stephen persönlich zu Gericht saß, Komödienaufführungen und Ausdruckstanz sowie Volkstänze, Schlittenrennen, Schneebildnerei und Zauberdarbietungen, und alles wurde gekrönt von einem großen Feuerwerk. Es war ein gewaltiges Vorhaben, ein teures Fest, eine Freude ohnegleichen und eine Quelle der Kraft für die Bevölkerung des Kontinents gewesen.
Bis zum Jahr des Blutvergießens.
Gwydion stand auf dem Balkon der Bibliothek und schaute über das Land seiner Väter. Er atmete die Luft, die nun winzige Tropfen aus gefrorener Feuchtigkeit barg. Der erste Schnee war in diesem Jahr spät gekommen, einen Tag vor Beginn des Winterkarnevals. Erleichtert sah er zu, wie der Schnee allmählich den Boden mit einem weißen Tuch überzog. Die großen, federigen Flocken wehten im heftigen Wind. Die Karnevalspiele waren eigentlich besser, wenn sich schon einige Wochen lang Schnee angehäuft hatte, der umso geeigneter war, je trockener er war, doch Gwydion befand sich nicht in der Stimmung, diesen Schnee zu bemäkeln.