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Denn bis er gefallen war, hatte Gwydion überlegt, ob sein Ausbleiben ein Zeichen dafür sein könnte, dass es wieder eine Tragödie gäbe.

Seit dem letzten Winterkarneval waren drei Jahre vergangen. Es war das erste Fest innerhalb der hohen Mauer gewesen, welche sein Vater um die Ländereien in der Nähe der Festung errichtet hatte; mit ihnen hatte er seine Untertanen vor der schrecklichen und wahllosen Gewalt schützen wollen, die eine Geißel des ganzen Kontinents geworden war. Die Mauer war eine Gnade für das Volk gewesen, als eine Kohorte berittener Soldaten unter dem dämonischen Bann eines F’dor-Geistes den Karneval und die Feiernden angegriffen hatten, die soeben das letzte Ereignis des Festes gesehen hatten: ein Schlittenrennen, das hinter der Mauer auf dem offenen Feld stattgefunden hatte. Die Abschlachterei, die dem gefolgt war, war entsetzlich gewesen. Bevor Stephen und sein Vetter Tristan Steward, der Herrscher von Roland, die verängstigten Gäste zurück hinter die Mauern hatten treiben können, waren bereits mehr als fünfhundert Menschen gestorben. Gwydion würde niemals den Ausdruck des beherrschten Entsetzens auf dem Gesicht seines Vaters vergessen können, als er Gwydion und Melisande über die Mauer in die Obhut der Verteidiger gegeben hatte, und die Erleichterung in seinen Augen, als sie in Sicherheit gewesen waren, worauf er sich wieder in die Schlacht gestürzt hatte.

Warum tun wir das wieder?, fragte sich Gwydion. Diese Frage stellte er sich bereits seit dem Tag vor zwei Monaten, als Rhapsody und Ashe ihm ihr Vorhaben eröffnet hatten, den Karneval wieder zu feiern. Seine Magie ist zerbrochen. Wie kann es einen Winterkarneval ohne meinen Vater geben? Sein Geist war der Winterkarneval. Ashes Hand legte sich auf seine Schulter. Gwydion schaute hoch zu seinem Paten, der nur noch eine Handbreit größer war als er selbst. Die himmelblauen Augen des Herrschers, die als Zeichen von königlichem cymrischen Geblüt galten, waren auf das Spielfeld gerichtet, auf dem Dutzende Handwerker nun Bühnen, Zelte und Tribünen errichteten und Gruben für das Feuerwerk aushoben. Die senkrechten Pupillen in Ashes Augen verengten sich in der Helligkeit der aufgehenden Sonne.

»Sieht so aus, als wäre uns das Wetter doch noch wohl gesonnen«, sagte er. »Ich hatte schon befürchtet, wir müssten den Fürbitter Gavin dazu bringen, Schnee herbeizurufen, falls das warme Winterwetter anhält.«

Gwydion nickte, sagte aber nichts. Ashes Vater Llauron war der vorige Fürbitter gewesen, der Anführer des filidischen Ordens der Naturpriester, die sich um den heiligen Gwynwald kümmerten. Bei jenem letzten, schrecklichen Karneval hatte Llauron das vom Dämon besessene Heer aufgelöst, indem er Winterwölfe aus dem Schnee erschaffen hatte, welche die Pferde der sorboldischen Kavallerie erschreckt und dadurch der fliehenden Bevölkerung Zeit verschafft hatten, hinter die Tore zu flüchten. Llauron hatte seinen menschlichen Körper gegen die Elementargestalt des Drachen eingetauscht, dessen Blut er von seiner Mutter Anwyn geerbt hatte, der Tochter der Drachin Elynsynos. Nun hielt er Zwiesprache mit den Elementen und schwebte immer in der Nähe, war aber unsichtbar. Ashe sprach selten über seinen Vater. Gwydion hatte seinem Paten einmal gesagt, er verstehe dessen Verlust, doch der Herr der Cymrer hatte weggeschaut und nur geantwortet, dass seine Lage nicht mit der von Gwydion vergleichbar sei.

»Seit gestern treffen die Gäste ein«, sagte Gwydion, als der Schnee dichter fiel. »Bisher gibt es keine Schwierigkeiten.«

Ashe drehte sich zu ihm um und nahm ihn bei den Schultern. »Es wird keine Schwierigkeiten geben, Gwydion. Ich habe alles unternommen, um sie zu verhindern.« Er drückte tröstend den Arm des jungen Mannes. »Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber sie sollten diese wichtigen Tage nicht überschatten. Es ist ein besonderer Augenblick für dich und für Navarne. Es gibt gute Gründe, fröhlich zu sein und zu feiern. Mit deiner Amtseinführung ist die Zukunft gesichert.« Er lächelte beruhigend; die Winkel seiner Drachenaugen verzogen sich vor Liebe. »Anstatt dir Sorgen zu machen, solltest du deine Kräfte für das Tauziehen aufsparen. Meine Mannschaft wird die deine gnadenlos durch den Schlamm ziehen, und davon gibt es in diesem Jahr eine Menge. Du solltest darum beten, dass der Boden rasch gefriert.«

Endlich legte sich ein Lächeln um die Mundwinkel des jungen Mannes.

Ashe bemerkte den Wandel und klopfte seinem Mündel auf die Schulter. »Das ist schon viel besser.

Jetzt verstehe ich, warum Gerald Owen es auf sich genommen hat, die Köche zu einer Extraportion Schneezucker nur für dich, Melly und mich zu überreden, sobald genug Schnee gefallen ist, um den kochenden Sirup zu kühlen.«

Gwydion lachte halbherzig, drehte sich um und wollte den Balkon verlassen. Bevor er die Tür erreichte, hörte er, wie sein Pate noch einmal leise seinen Namen nannte.

»Gwydion?«

»Ja?«

Ashe wandte sich nicht um, sondern schaute weiterhin über die nun weißen Felder von Navarne, während der Karneval unter ihm langsam zum Leben erwachte.

»Ich vermisse ihn auch.«

Reich der Sonne — Westliche Wüste von Sorbold

Faron begriff überhaupt nicht, was mit ihm geschehen war.

Als er auf der Waagschale erwacht war, hatte er mit seinen eingeschränkten Verstandesfähigkeiten zuerst geglaubt, er sei tot. Das blendende Licht und die gewaltige Hitze hatten sein geschrumpftes Fleisch mit qualvoller Reinheit übergössen. Faron waren Schmerzen nicht fremd, doch diese Pein war so überwältigend gewesen, dass er geglaubt hatte, es könne nur der Tod sein, nach dem er sich so gesehnt hatte. Als daher das Licht verschwand und der Himmel über ihm aufklarte, war er verzweifelt.

Der Vater, mit dem er sich hatte vereinigen wollen, war nicht da.

Er erinnerte sich nicht daran, wie er fortgelaufen war, und begriff nicht die Hindernisse, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Sie hatten seine Flucht nicht aufhalten können. Er war einfach so schnell wie möglich gelaufen, sobald ihm der Gedanke des Laufens gekommen war – weg von den Schmerzen und hinein in die Wärme der Wüste, die er vom Platz des Wiegens aus spürte.

Nun durchwanderte er allein die Wüste, schritt über Sand und trockenes Gebüsch hinweg und manchmal durch es hindurch, als sei es Luft. Der Körper aus Lebendigem Gestein, das seinen Geist umschloss, war aus der Erde geboren und wog nichts für ihn, wenn er in Berührung mit dem Boden blieb. Jeder Schritt und jeder Augenblick, in dem er den von der Sonne ausgedörrten Boden unter seinen Füßen spürte, verhalfen ihm zu neuer Stärke. Auch betrachtete er sich nicht mehr unwillkürlich als geschlechtslos. Etwas im Geist des Steinkriegers sagte ihm, dass er männlich war, auch wenn er es nur unbewusst erkannte. Außerdem hatte er Erinnerungen bekommen, Bruchstücke von Bildern, die jenseits seines Begreifens lagen. Da waren Schlachtszenen, endlose Märsche, die mit der Geschwindigkeit halb geformter Gedanken kamen und gingen und ihn verwirrt zurückließen. Auch andere Bilder drangen auf ihn ein, menschliche Erinnerungen und solche Szenen, die eindeutig nicht aus dem Geist eines Menschen stammten, sondern von der Erde selbst. Instinktive Gedanken flüsterten ihm auf der elementarsten Ebene zu. Der Winter kommt, sagten sie. Zeit der Brache. Zeit des Schlafes.

Doch jetzt stand die Sonne hoch am Himmel. Die Erde war warm unter seinen Steinfüßen.

Und gab ihm Kraft.

In der Ferne spürte er die Schuppen so deutlich, wie er sie in seinem schimmernden Teich aus grünem Wasser gespürt hatte. Jede rief ihn mit einer Schwingung, die einzigartig auf der Welt war. Diese Schwingungen waren vor dem Aufwachen ein untrennbarer Teil von ihm gewesen. Er konnte sie noch nicht sehen, doch er spürte die Richtung, aus der sie ihn riefen. Der Gedanke an sie besänftigte seinen gequälten Geist und regte ihn gleichzeitig auf, denn die fehlenden Schwingungen nagten an seinem Bewusstsein.