Und da war noch etwas, etwas noch Ferneres. In den Abgründen seines Bewusstseins lag bruchstückhaft und gehüllt in die Dunkelheit der Doppeldeutigkeit die Erinnerung an Feuer.
An dunkles Feuer.
20
»Das ist demütigend«, sagte Rhapsody. Ashe seufzte. »Das hast du in der letzten Stunde schon dreimal gesagt«, meinte er nachsichtig und beobachtete, wie seine Frau mit einem dicken Umhang unter einer noch dickeren Decke kämpfte. Sie saß mitten auf der Tribüne in einem großen, ausgepolsterten Sessel mit hoher Lehne; die Füße ruhten auf einem weichen Kissen, und der vorgestreckte Bauch war so groß geworden, dass sie kaum über ihn hinwegsehen konnte. Ashe beugte sich zu ihr, küsste sanft ihre Wange, die rot vom Wind war, und strich ihr eine Strähne des goldenen Haars aus den Augen.
»Ich kann stehen«, beharrte sie.
»Na, immerhin einer von uns«, fiel Anborn fröhlich ein. Er saß links von ihr und beobachtete die Parade der Festbesucher ebenfalls von der Tribüne aus. »Jetzt weißt du, wie ich mich fühle.«
»Sie kann auch nicht stehen«, gab Ashe zurück. »Wenn sie steht, muss sie sich entweder erbrechen, oder ihr wird schwindlig.«
»Das passiert mitunter auch, wenn ich sitze«, meinte Rhapsody launenhaft. »Wenn ich mich übergeben muss, wäre es wenigstens schön, zu sehen, auf wen ich mich übergebe.«
»O Herrin, bitte zielt keinesfalls auf die Bauern«, sagte Anborn neckisch. »Dreht Euer hübsches Haupt im Uhrzeigersinn auf Euren Gemahl zu. Er ist schließlich verantwortlich für Euer Leid – oder wenigstens glaubt er das.«
Rhapsody warf Anborn einen wilden Blick zu, lehnte sich unter der Decke zurück und bemühte sich, ein freundliches und gleichzeitig formelles Gesicht zu machen. Die Menge der Feiernden nahm sie nur verschwommen wahr; es war ein Meer aus wogenden Gesichtern und Kleidern, das unter den Wachen, der Tribüne und den flatternden Bannern aus farbiger Seide hindurchfloss, welche von den Türmen Hagueforts herabhingen.
Melisande saß neben ihnen. Ihr Gesicht leuchtete vor Aufregung. Es wurde von einer Pelzkappe eingerahmt, die zum Muff passte, in dem ihre Hände steckten. Die schwarzen Augen schimmerten vom Wind, der Nase und Wangen gerötet hatte.
»Sieh dir nur die Puppen an!«, rief sie freudig zu Rhapsody, als eine Gruppe riesiger, fein modellierter Harlekine an der Tribüne vorbeizog. Die Glieder wurden mit langen Stäben von den Spielern bewegt, die hinter ihnen herschritten und neben den Puppen wie Zwerge wirkten.
Rhapsody gab ihr Lächeln zurück. »Machst du in diesem Jahr bei dem Schneeschlangenwettbewerb mit?«, fragte sie das junge Mädchen.
»Ja, auf alle Fälle«, antwortete Melisande und warf Gwydion einen wissenden Blick zu. »Ich muss schließlich die Familienehre verteidigen, denn beim letzten Mal hat Gwydion in der Endrunde verloren.«
»Das stimmt«, murmelte Gwydion zu sich selbst. Er hatte diesen Teil des Karnevals vergessen. Der Gedanke daran öffnete Schleusentore in seinem Kopf, und die Erinnerungen flössen zurück: der fröhliche Wettbewerb, die komischen Wettrennen, in denen Melisande und die anderen kleinen Kinder mit einem um die Hüfte gebundenen Schlitten gegeneinander antraten, auf dem je ein fettes Schaf saß, die Aufregung bei den Schlittenrennen und das fröhliche Abwerfen der siegreichen Mannschaft durch die Verlierer. All diese guten Erinnerungen waren durch das überschattet, was sich später ereignet hatte. Und über allem hörte er Stephens fröhliches Lachen. Ich muss es festhalten, dachte er. Das war der letzte Karneval meines Vaters. Ich muss ihn auf diese Weise im Gedächtnis behalten.
Er wandte sich an Anborn, neben dem er saß, und deutete auf einen großen, dunklen und dünnen Mann mit Schnurrbart in der Menge. Er wurde von einem kleinen Gefolge begleitet und bahnte sich einen Weg von der Wagenreihe vor den Mauern Hagueforts zum zentralen Festplatz.
»Ist das nicht Trevalt, der Schwertmeister?«, fragte Gwydion.
Anborn kräuselte verächtlich die Lippen. »Ich würde ihn nie mit einem solch hochtrabenden Titel anreden, aber es ist in der Tat Trevalt.«
Gwydion lehnte sich auf seinem Sitz vor und sprach seinen Paten an.
»Cymrer der dritten Generation?«
»Der vierten«, berichtigte Ashe ihn.
»Aber ein Dämel der ersten Generation«, schnaubte Anborn. »Ein Schwachkopf, der sich in das Gewand eines Gelehrten kleidet, ein Schauspieler, der sich mit den Orden eines Soldaten schmückt, weil er einen Krieg überlebt hat, in dem sogar Kinder und blinde Bettler gekämpft haben.«
Gwydion zuckte unter dem beißenden Spott seines Lehrers zusammen und sah Ashe fragend an. Sein Pate gab ihm ein Zeichen; Gwydion stand auf und ging hinüber zu ihm. Ashe beugte sich vor, damit niemand ihn belauschen konnte.
»Anborn hasst Trevalt, weil dieser einmal behauptet hat, er sei ein Blutsverwandter, nur um persönlichen Nutzen daraus zu ziehen«, erklärte er leise. Mehr musste er nicht sagen. Das Entsetzen in Gwydions Blick zeigte deutlich an, dass er die Schwere dieser Untat verstand. Blutsverwandte wie Anborn waren Mitglieder einer geheimen Bruderschaft von Kriegern und Meister in der Kunst des Kampfes, die ihr Leben dem Soldatentum verschworen hatten. Aus zwei Gründen wurde man in diese Bruderschaft aufgenommen: unglaubliches soldatisches Geschick, das man sich während eines ganzen Lebens erworben hatte, oder eine selbstlose Tat, zum Beispiel die Rettung eines Unschuldigen unter Einsatz des eigenen Lebens. Ein Blutsverwandter zu sein bedeutete, eine ungeheure Vertrauensstellung zu haben; es war die höchste Ehre, verbunden mit der höchsten Selbstlosigkeit, und die Mitgliedschaft beinhaltete die unausgesprochene Verpflichtung der Geheimhaltung. Jeder, der vorgab, einer zu sein, war daher eindeutig ein Lügner. Außerdem wurde eine solche Behauptung als schier unerträgliche Beleidigung angesehen.
Er schaute wieder Anborn an, dessen Gesicht noch immer rot vor Zorn war. Trotz seiner Statur saß er kraftlos in seiner Sänfte; die Beine hingen reglos herab. Gwydion empfand Mitleid mit ihm, doch einen Augenblick später bemerkte er, wie Anborn Rhapsody anschaute, die selbst eine Blutsverwandte war, und der Ärger aus seinem Gesicht wich, als sie ihn anlächelte. Sie seufzten beide und beobachteten wieder die Menschenmenge und die Lustbarkeiten.
»An diese Folter musst du dich gewöhnen, Gwydion«, sagte Anborn, als die Reihe der Würdenträger an der Tribüne vorbeimarschierte. »Diese Art von nutzlosem Unsinn stiehlt einem die Zeit, wenn man die Bürde eines Titels trägt.«
Rhapsody schlug den Marschall neckisch. »Hör auf damit. Dein Titel hat dich nie davon abgehalten, dich den höfischen Verpflichtungen zu entziehen.«
»Du vergisst, dass meine Titel nur militärische sind«, erwiderte Anborn. »Ich war das jüngste von drei Geschwistern. Wie ich mit Erleichterung sagen darf, hatte niemand je die Illusion, in mir einen Titelerben zu sehen.«
»Außer der Dritten Flotte, die dich für meinen Titel vorgeschlagen hatte, wie du dich erinnern wirst«, scherzte Ashe. »Wenn du ihn nicht abgelehnt hättest, müsstest du heute noch viel mehr >nutzlosen Unsinn< über dich ergehen lassen.«
Anborn schnaubte verächtlich und wandte sich wieder seinem Becher mit heißem Würzmet zu. Trevalt und sein Gefolge hielten vor der Tribüne an, wie es das Protokoll verlangte, und verneigten sich geziert und tief vor dem Herrn und der Herrin der Cymrer. Rhapsodys Hand schoss hervor und legte sich über Anborns Mund, damit er nicht seinen Trunk auf den Schwertmeister spuckte. Sie lächelte Trevalt freundlich an. Er blinzelte verwirrt, gab ein schwaches Lächeln zurück und ging weiter.
»Also bitte, Onkel, das ist Gwydions letzter Tag vor seiner Amtseinsetzung«, sagte Ashe und versuchte seine Belustigung im Zaum zu halten. »Wir sollten seinen Aufstieg zum Herzog nicht mit einer Rauferei beginnen, oder?«