»Stimmt«, gestand Rhapsody. »Ich hatte gerade den Garten betreten, als ich deine Gegenwart gespürt habe.«
»Ich möchte dich nicht stören. Ich muss mit Gwydion sprechen, bevor er zu sehr von den Vorbereitungen zu seiner Amtseinsetzung in Anspruch genommen wird. Welches Fenster ist seines?«
»Das da«, sagte Rhapsody und deutete auf einen Balkon über der Großen Halle. »Spar dir die Kletterei und anschließende Gefangennahme. Ashe geht kein Risiko ein. Überall stehen Wachen, und Soldaten patrouillieren an den Provinzgrenzen.«
»Das habe ich bemerkt«, sagte Achmed trocken.
»Gut für ihn, er hat etwas gelernt. Vielleicht hatte deine Entführung doch einen Sinn.«
»Gwydion befindet sich möglicherweise auf dem Friedhof«, sagte Rhapsody kühl und schenkte der Beleidigung keine Beachtung. »Dort beginnt er für gewöhnlich seinen Tag. Ich vermute, er ist jetzt schon da. Lass ihn bitte kurz allein, bevor du ihn aufsuchst.«
Achmed nickte. »Ich komme danach zu dir zurück; dann können wir reden. Ich brauche deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Stell dich also darauf ein, jeden wegzuschicken, der mit dir über Unwesentlichkeiten plaudern will.«
»Gern«, meinte Rhapsody, während er ihr den Arm entzog. Er war soeben aus ihrem verschwommenen Blickfeld verschwunden, als sie jemand anderen spürte. Es war eine andere Schwingung, ein älterer, musikalischerer Klang.
»Guten Morgen, Jal’asee«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
»Guten Morgen, Herrin.« Die wohltönende Stimme trieb ihr leicht wie Äther auf dem warmen Wind entgegen. Einen Augenblick später schien der Meeresmagier aus dem Morgenlicht zu wachsen, doch Rhapsody war sich sicher, dass er die ganze Zeit knapp außerhalb ihres Gesichtsfelds gestanden hatte.
Rhapsody holte tief Luft. Der Meeresmagier und sein Gefolge hatten Haguefort am Morgen nach Ashes Ankündigung, Gwydion zum Herzog zu machen, verlassen und mit Vizekönig Rial das lirinische Königreich Tyrian besucht. Rhapsody hatte gehofft, er werde früher zurückkehren, damit er sie in der Wissenschaft der Magie unterweisen konnte, wie er versprochen hatte, doch seine Abwesenheit hatte ihr klar gemacht, dass die Riten der Insel Gaematria immer noch geheim waren. Sicherlich hatte er einen guten Grund dafür, gerade jetzt wieder aufzutauchen. Er lächelte entwaffnend, beschirmte die Augen und schaute in den Himmel.
»Habt Ihr schon den Tagesstern begrüßt?«
»Noch nicht«, antwortete Rhapsody. Sie wandte sich gen Osten, wo der Stern nun unterging. Eine dünne, rosafarbene Linie hatte das graue Gewölbe des Horizonts durchbrochen und pulsierte im nahenden Licht.
»Es tut mir Leid, dass ich so spät komme. Ich weiß, dass ich Euch eine Unterweisung in jene Geheimnisse versprochen habe, die Ihr noch nicht kennt. Wenn es Euch beliebt, meine Herrin, würde ich Euch gern die Elegie auf den Seren beibringen. Es ist ein Lied, das die Alten komponiert haben, als sie die alte Welt verließen. Dabei handelt es sich um einen Lobgesang an den Schöpfer für das Wunder dieses Sterns. Wir sind der Meinung, dass das Lied uns hilft, miteinander die Verbindung aufrechtzuerhalten, die wir hatten, als wir unsere Hymnen unter seinem Licht in Serendair gesungen haben.«
Rhapsody dachte kurz nach. »Ich fühle mich geehrt«, sagte sie schließlich.
Der große, goldbraune Mann lächelte, nahm ihre Hand in seine und schloss die Augen. Sie folgte seinem Beispiel und spürte einen Augenblick später einen Lufthauch über sich hinwegwispern. Er war im Einklang mit ela, ihrem Namenston, der Schwingung auf der Tonleiter, auf die sie eingestimmt war.
Hinter den geschlossenen Lidern sah oder fühlte sie ein schimmerndes Licht in der Dunkelheit des Universums singen. Der Stern, den sie schon seit so langer Zeit mit ihrer Musik willkommen geheißen hatte, gab das Lob zurück, das Jal’asee ihm sang, doch es war eine andere Antwort, als Rhapsody sie gewohnt war. Sie schien nicht auf der anderen Seite der Welt zu ertönen, sondern geradezu gegenwärtig zu sein. Unabsichtlich öffnete sie die Augen und blinzelte vor Schreck. Ihr Morgensang kam zu einem plötzlichen Ende, während sie Jal’asees Hand fallen ließ.
Ein ätherisches Licht drang unmittelbar aus dem Kopf des Meeresmagiers; es strahlte grell aus seinen Augen. Er beendete das Lied und wandte sich an sie.
»Wer mit ätherischem Licht getauft ist, trägt es in sich, wo immer er ist«, erklärte er. »Es ist für mich nicht nötig, auf den Abend oder den Morgen zu warten, um sein Loblied zu singen, denn sein Licht ist immer in mir.«
»Vielen Dank für die Unterweisung«, sagte Rhapsody und folgte den Vorbereitungen zum Fest mit wachsamem Blick.
»Ist denn der Bolg-König schon eingetroffen?«, fragte Jal’asee höflich. Rhapsody entdeckte einen Anflug von Ungeduld in seinem Blick, doch ansonsten machte der Botschafter eine völlig unbeteiligte Miene.
»Das ist er in der Tat«, sagte Rhapsody und beobachtete besorgt, wie ein Schwärm Köche durch den Schnee stapfte; jeder trug ein Tablett mit Süßigkeiten, Winterfrüchten und Kuchen. »Er sollte jeden Augenblick zurück sein. Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, ihm zu sagen, dass Ihr ihn sprechen wollt.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Jal’asee sanft. »Ich überlasse Euch Euren Vorbereitungen und mache einen Spaziergang im Schnee. Gaematria liegt in den Tropen; daher haben wir keinen Schnee, es sei denn, wir machen ihn selbst.«
Die Herrin der Cymrer schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass ich eines fernen Tages eine Einladung auf Eure Insel erhalte, Jal’asee«, sagte sie und legte sich die Hand auf den Bauch, als das Kind wild ausschlug und ihr starke Übelkeit verursachte. »Sie scheint ein bemerkenswerter Ort zu sein.«
»Ihr müsst sie besuchen, wenn Ihr die Wissenschaft der Magie erlernen wollt, Herrin«, sagte Jal’asee milde. »Sie gleicht der Lehre des Benennens, verlangt aber weitere Fachkenntnisse und hat einen Schwerpunkt auf allem, was das Meer betrifft. Als Wissenschaftler bin ich der festen Überzeugung, dass man den besten Lehrer, Arzt oder Mentor, den man bekommen kann, suchen und sich ganz in seine Hand begeben soll. Diese Leute kennen wenigstens die Irrwege und alles, was auf ihrem Fachgebiet schief gehen kann, denn vermutlich haben sie bereits ihre eigenen schlechten Erfahrungen gemacht.«
Rhapsody lächelte. »Ich hatte einen ganz ähnlichen Gedanken, Jal’asee. Wenn bloß mein Mann zustimmen würde!«
Achmed war zwar Herzog Stephen Navarne freundschaftlich zugetan gewesen, hatte aber noch nie an dessen Grab gestanden. Solche Besuche lagen nicht in seiner Natur. Er hatte in seiner Laufbahn als Mörder und König so oft den Tod gebracht, dass er dessen Endgültigkeit begriff und um die Trennung der Seele von der irdischen Substanz wusste. Deshalb kümmerte er sich nicht um Jahrestage oder die Pflege von Gräbern. Wenn er die Notwendigkeit der Erinnerung spürte, durchkämmte er den Wind und seine eigene Erinnerung, anstatt Blumen auf einem Grab zu pflanzen. Er brauchte nur wenige Augenblicke, bis er Gwydion Navarne in dem stillen, von Immergrün und Schmiedeeisen eingefassten Garten hinter Haguefort gefunden hatte.
Er hatte vermutet, dass eines der größeren Monumente, die in unterschiedlichen Schattierungen alten Marmors erstrahlten, den Ruheplatz von Hagueforts geliebtem Herrn und Verwalter markierte, denn niemand hatte sich mehr um die Renovierung und Erhaltung der rosig-braunen Festung verdient gemacht als Stephen; er hatte auch innerhalb der Festungsmauern das cymrische Museum errichtet. Dabei handelte es sich um ein flaches Marmorgebäude, das die Überreste des aufgeklärten Zeitalters beherbergte, welches begonnen, seinen Höhepunkt gehabt und sein Ende gefunden hatte, während Achmed, Grunthor und Rhapsody durch die Erde gereist waren. Wenn jemand einen der närrisch geschmückten Grabsteine verdiente, die an diesem Ort in den Winterhimmel ragten, dann war es Stephen.
Zu Achmeds Freude war Stephen jedoch nicht in einem Mausoleum mit einem steinernen Obelisken beigesetzt worden, sondern ruhte in der schneebedeckten Erde unter zwei schlanken Bäumen gemeinsam mit seiner Gemahlin Lydia. Eine einfache Bank und eine kleine Marmortafel mit einer Inschrift waren alles, was diesen Ort hervorhob. Achmed hätte ihn nicht bemerkt, wenn da nicht Stephens Sohn gewesen wäre, der still und nachdenklich auf der Bank saß. Er trug eine silberblaue höfische Robe und machte ein ernstes Gesicht.