Der alte Kammerherr von Haguefort gab schließlich das Zeichen, dass der Sirup ausgegossen werden konnte. Er trat aus dem Weg und ermöglichte es so den Hilfsköchen, den Topf genau auszurichten, während die Schneebretter herbeigebracht wurden. Er wischte sich die zuckrigen Hände an der schweren Leinenschürze ab, verschränkte die Arme und erlaubte sich ein kleines, befriedigtes Grinsen.
Das Fest der Sonnenwende schien sich trotz der bösen Vorahnungen gut anzulassen. Owen diente der Familie schon seit zwei Generationen, und es bereitete ihm große Genugtuung zu sehen, wie die Traditionen, die Stephen so geliebt hatte, von seinem Sohn weitergeführt wurden, um den sich Owen seit dessen Geburt gekümmert hatte. Insgeheim war er froh, dass Gwydion nun seinen rechtmäßigen Titel annehmen würde. Die Gegenwart des cymrischen Herrscherpaares war nach dem Verlust des Herzogs sehr beruhigend und tröstlich gewesen, doch allmählich stellte sie sich in der kleinen Festung Haguefort als unbequem dar. Die Häupter des Bündnisses gehörten in ein angemesseneres Haus. Soweit er gehört hatte, war Hochanger wenigstens zentral gelegen, wenn auch nicht sehr prunkvoll. Doch Haguefort war ursprünglich als Festung für die Familien erbaut worden, die zu Beginn des cymrischen Zeitalters in der Wildnis Navarnes gesiedelt hatten. Es war nie ein Palast oder auch nur eine Burg, sondern immer nur eine bescheidene Festung gewesen. Wenn es anstelle der Heimstatt des Herrscherpaares bald nur noch der Sitz eines Herzogs war, würde das Leben hier wieder zur Normalität zurückkehren.
Er setzte sich müde und erschöpft auf ein mit Laken bedecktes Fass und beobachtete die wilde Balgerei der Kinder, die um die zerbrechlichen Süßigkeiten wetteiferten. Gerald Owen war wie der Herzog, dem er diente, von cymrischem Geblüt, auch wenn es recht verwässert war, und war längst viel älter als die menschlichen Freunde, mit denen er aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Er hatte viele der Eltern und Großeltern der Kinder, die sich nun um die Süßigkeiten balgten, das Gleiche bei lange zurückliegenden Festen tun sehen. Über allem lag eine zyklische Harmonie. Das Gefühl, dass das Leben für die anderen schneller ablief als für ihn, machte ihn gelegentlich melancholisch.
Ein Griff an seiner Schulter riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf, blinzelte im Sonnenlicht und sah das lächelnde Gesicht von Hagueforts zukünftigem Herrn.
»Ist es bald so weit, Gerald?«, fragte Gwydion Navarne.
Owen erhob sich rasch; in seine Bewegungen war der Schwung zurückgekehrt.
»Ja, Herr, falls Ihr auch so weit seid.«
»Das bin ich, sobald du einen Blick auf mich geworfen und sichergestellt hast, dass ich nichts vergessen habe. Sobald du mich gemustert hast, fühle ich mich bereit.«
Gerald Owen nahm den jungen Herzog am Arm und führte ihn zurück in die Große Halle, in der ein Tisch mit den nötigen Werkzeugen für die letzten Vorbereitungen stand.
»Keine Sorge, junger Herr«, sagte er mit großer Zuneigung. »Wir werden Euch auf eine Art und Weise ausstatten, die Euch und alle, die Euch lieben, mit Stolz erfüllen wird.«
Ashe hielt Wort. Die Zeremonie, mit der Gwydion in seine Rechte eingeführt wurde, war kurz und elegant. Rhapsody sah zu, wie sich der Junge, den sie vor vier Jahren als ihren ersten Enkel ehrenhalber angenommen hatte, vor ihren Füßen verneigte und den Blick hob, in dem sich neue Weisheit spiegelte. Es war die Weisheit eines jungen Mannes, der nun den Mantel seines rechtmäßigen Erbes fest auf den Schultern trug. Das Herz ging ihr auf bei dem Anblick seiner ruhigen Miene und den klugen und ehrerbietigen Worten, mit denen er sein Amt annahm. Nachdem Ashe ihm die Schlüssel zu Haguefort und Stephens wertvollen Siegelring mit dem Wappen des Herzogtums Navarne übergeben hatte, drehte sich Gwydion um und dankte den Versammelten, dann bat er sie, zum Fest zurückzukehren, wobei er besonders das Schlittenrennen erwähnte, das bald begann. Als die Menge zu den Zelten und dem Turnierplatz zurückkehrte, verspürte Rhapsody plötzlich eine feste, knochige Hand an ihrem Ellbogen.
»Hast du jetzt Zeit?«, fragte Achmeds sandige Stimme leise an ihrem Ohr. »Wir müssen etwas Wichtiges besprechen.«
Ohne sich umzudrehen, nickte Rhapsody und gestattete Achmed, sie aus der Menge erregter Festteilnehmer heraus und in einen stillen Bereich innerhalb der Festung zu führen.
»Worum geht es?«, fragte sie angespannt, sobald sie außer Hörweite der Dienerschaft waren. »Sag mir, warum du dich unbedingt einem unserer vornehmsten Gäste gegenüber so sagenhaft schlecht benehmen musstest.«
»Es war nötig, weil ich nicht anders kann«, gab Achmed gereizt zurück. »Das solltet ihr alle doch inzwischen wissen. Er ist ein Mistkerl, und mit Mistkerlen habe ich nur sehr wenig Geduld. Jetzt geht es darum, wie du dem Bolgland helfen kannst und was ich von dir haben will. Erinnerst du dich an das hier?«
Er überreichte ihr ein kleines, geschlossenes Stahlkästchen, das mit Bienenwachs versiegelt war.
Rhapsody zog die Brauen zusammen. »Ja. Befinden sich darin nicht die alten Pläne Gwylliams?«
»Richtig. Ich brauche eine vollständige und genaue Übersetzung davon.«
»Ich glaube, ich habe schon einmal eine für dich angefertigt«, meinte Rhapsody mit wachsendem Groll. Sie öffnete das Kästchen, entfernte das oberste Dokument, das in Altcymrisch abgefasst war, von den darunter liegenden, noch älteren Papieren, die sorgfältig in Musikschrift verfasst waren. »O ja, ich erinnere mich wieder an dieses Gedicht:
Achmed nickte ungeduldig.
»Ich verstehe das Gedicht«, sagte er. »Ich brauche eine sorgfältige Übersetzung der Pläne und aller dazugehörenden Dokumente.«
»Bis wann?«
Der Bolg-König dachte nach. »Was machst du bis zum Abendessen?«
»Eigentlich hatte ich vor, mir die Schlittenrennen anzusehen«, erwiderte Rhapsody schelmisch. »Und danach würde ich gern am Rest der Feier teilnehmen. Was glaubst du wohl, wie lange so etwas braucht, Achmed? Ich kann dir versichern, dass es eine Arbeit von Tagen, wenn nicht gar von Wochen ist. Es ist nicht nur eine Musikschrift. Man muss die Komposition auch spielen und mit späteren Teilen des Stücks vergleichen. Das ist nicht etwas, das ich einfach so nach dem Mittagessen tun kann.«
»Na gut, ich bin bereit, bis zum Tee zu warten«, meinte Achmed trocken.
»Du musst bist zum Tee im nächsten Jahr warten«, antwortete Rhapsody. »Habe ich dir außerdem nicht beim letzten Mal gesagt, dass ich mir Sorgen wegen deiner unbesonnenen Versuche mit altem Wissen mache?«
»Das hast du, und aus diesem Grund habe ich mich entschieden, keine Experimente anzustellen, sondern vorher eine genaue und sorgfältige Übersetzung zu bekommen, damit ich danach entscheiden kann, was ich mit den Informationen anfange. Dagegen hast du doch wohl nichts, oder?«
Sie dachte kurz nach. »Ich glaube nicht.«
»Gut. Vielleicht kannst du deine ganze Aufmerksamkeit auf diese Papiere richten, wenn der Mummenschanz endlich vorbei ist. Wie ich schon gesagt habe, könnte es genau das sein, was wir zur Verteidigung der Bolg-Lande und daher auch des Bündnisses brauchen, wenn es so funktioniert, wie ich es in der alten Welt gesehen habe. Das sind dir dein Mündel, das Schlafende Kind, deine Bolg-Enkel und das ganze Volk von Ylorc doch wert, oder?«