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Es war schwer für ihn, sich nicht zu verfluchen und die Gedanken zurückzudrängen, die seinen Geist überfielen. Sie weigerten sich, verbannt zu werden, und drängten unbarmherzig voran in sein Bewusstsein.

Du Narr. Wenn du damals bloß etwas unternommen und begriffen hättest, dass die Waage manipuliert war, hättest du möglicherweise den Tod der halben Welt verhindern können, der nun unweigerlich folgen wird. Nun kommt dieses Blut zu dem anderen, das schon an deinen Händen klebt.

Er dachte an Terreanfor, einen der letzten Horte des Lebendigen Gesteins in der bekannten Welt, und an die gewaltige Macht, die dort existierte. Von allen Elementen hatte allein die Erde die Eigenschaft, eine solche Macht aufrechtzuerhalten; die anderen waren zu flüchtig, zu vergänglich, um sie in großen Mengen zu binden. Der Wind war zu flüchtig, das Meer zu aufgewühlt, das Sternenlicht zu fern und das Feuer zu zerstörerisch und unvorhersehbar. Doch die Erde war unerschütterlich, unveränderlich und durchlief ihre Zyklen mit geduldiger, beinahe ehrerbietiger Gleichmäßigkeit, was der Grund dafür war, dass so viel von der Macht der Welt in der Erde und auf dem Land lag. Und als er an die kühle, dunkle Kathedrale tief im Nachtberg dachte, wohin das Licht nie kam, dachte er an die Geschichte, die ihm die Priester über das Fällen der Soldatenstatue aus Lebendigem Gestein erzählt hatten.

Und er dachte an all die anderen Statuen, Menschen und Tiere, Bäume und an den Altar aus Lebendigem Gestein, die auf die Ernte warteten.

Konzentriere dich, zwang er sich.

Leise sang er nun die Riten, durch die er die täglichen Gebete aller Gläubigen empfing. Dabei schwang sein Körper leicht hin und her und wurde zum Kanal für die Bitten an den Schöpfer. Es war immer ein erniedrigendes Gefühl, von den Gebeten, Träumen, Ängsten und Freuden unzähliger Seelen durchströmt zu werden. Sein Körper leuchtete für einen Augenblick auf und nahm dasselbe ätherische Glänzen an wie der Stern auf dem Minarett tausend Fuß über ihm. Von allen Ecken des Kontinents, aus dem südwestlichen Bereich der Neutralen Zone, aus Bethe Corbair im Osten, aus Navarne und Avonderre im Westen, aus Canderre und Yarim im Norden, aus Bethania, der Zentralprovinz von Roland und schließlich auch aus Sorbold im Süden schickte ein Segner nach dem anderen die Gebete der Gläubigen durch den Steinaltar. Die Lobgebete klangen in seinem Kopf wie ein Wechselgesang in verschiedenen Tonlagen. Er wusste nicht, um was gebetet oder was als Opfer dargebracht wurde oder wie viele Leute ihm ihre Gebete anvertrauten; er wusste nur, dass alle zusammen eine wunderbare Sinfonie des Lobpreises und Bittgesangs zu Ehren des All-Gottes ergaben.

Vorher vermochte er nie zu sagen, wie lange die Übermittlung der Gebete dauern würde; in Anwesenheit der großen elementaren Kraft verlor die Zeit jede Gewalt über ihn. Als endlich die Stimmen der einzelnen Segner nacheinander verblassten, hielt er die letzte fest und nährte sie mit seinem eigenen Gesang.

Die letzten vier Lobgesänge endeten; die Segner hatten ihre Abendpflicht in der Gebetskette erfüllt und bemerkten nicht, dass der Patriarch noch lauschte. Als nur noch der einzelne Gesang des Segners von Sorbold in der widerhallenden Basilika zu vernehmen war, sprach der Patriarch.

Nielash Mousa, flüsterte er. Warte.

So etwas hatte er noch nie getan; er war entlang der Gebetskette zu einem untergeordneten Beter zurückgegangen, doch nun war er verzweifelt. Der Altar erbebte unter seinen Händen. Er wartete lange, bis endlich eine sehr überraschte Stimme durch Lianta’ar hallte.

Ich höre Euch, Euer Gnaden.

Ein unangenehmes Gefühl durchströmte ihn. Die strahlenden Schwingungen von Lobpreis und Bitte verwandelten sich in schmerzhafte Disharmonie. Constantin packte den Altar und kämpfte darum, nicht zusammenzubrechen.

Ihm war, als läge das Gewicht der ganzen Welt nun auf seinen Schultern und presste ihm die Luft aus der Lunge. Alle Leichtigkeit, die er bei seinen täglichen Gebeten empfand, hatte sich ins Gegenteil verwandelt. Nun rang er nach Luft und kämpfte darum, dem unerträglichen Druck standzuhalten.

Die Zeit dehnte sich um ihn. Während seine täglichen Gebete wie im Flug vergingen, war nun jeder Herzschlag, jeder Atemzug anstrengend und bis ans Ende von Zeit und Raum gedehnt.

Konzentriere dich, dachte er erneut, während ihm der Schweiß von der Stirn troff.

Er öffnete den Mund und wollte sprechen, doch es verursachte ihm große Schmerzen. Die Gelenke seines Kiefers knirschten unter dem Druck, und aller Speichel verschwand von seinen gesprungenen Lippen, als er Worte zu formen versuchte. Constantins Hände zitterten; er schloss die Augen und flüsterte zwei Worte, was ihm mehr Schmerzen verursachte, als er je verspürt hatte. Er wusste, wie wichtig diese Botschaft war, und legte alle ihm verbliebene Stärke hinein.

Schütze ... Terreanfor.

Die Worte hatten gerade seine Lippen verlassen, als die Welt um ihn dunkel wurde. Er bemerkte undeutlich, wie er gegen den Altar stieß, und war schon bewusstlos, als sein Blut den Boden der Basilika befleckte. Constantin lag bäuchlings im silbernen Licht des Sterns auf dem Turm von Sepulvarta und steckte so tief in dem grauen Nebel zwischen Wachen und Schlaf, dass er die Antwort des Segners nicht mehr hörte. Ich verstehe.

30

Der innere Hafen von Ghant — Sorbold

Obwohl er nicht so groß war wie Avonderres Port Fallon, der gewaltigste Hafen an der Westküste, war der innere Hafen von Ghant doch einer der größten der Welt, in dem täglich Tonnen von Waren gelöscht wurden. Hunderte Kaufmannsschiffe segelten mit jeder Flut hinein und kamen dabei an dem äußeren Hafen vorbei, in dem die Flotte von Sorbold vor Anker lag. Jedes Schiff wurde untersucht, jedes Ladedokument vom Hafenmeister durchgesehen, der die Einfahrt in das seichte Wasser der riesigen Lagune, welche den inneren Hafen bildete, entweder erlaubte oder verbot.

Damals hatte Anborn beide Häfen oft gesehen. Ghant war einer der ersten Orte gewesen, die er im cymrischen Krieg vor tausend Jahren besetzt hatte. Von hier aus hatten seine Landstreitkräfte den Versorgungsweg ins Landesinnere sichern und die Kriegsschiffe Angriffe gegen den lirinischen Hafen Tallono im Nordwesten führen können. Tallono war ein geschützter Hafen, den die Gorllewinolo-Lirin mithilfe seiner Großmutter, der Drachin Elynsynos, errichtet hatten, doch als Anborn in Ghant eingefallen war, war in seinem Herzen kein Platz für Empfindsamkeiten gewesen, sondern nur für Mord und Rache. Mit äußerster Gründlichkeit hatte er Tallono fast völlig niedergebrannt, so wie er es auch mit den kleineren Häfen Minsyth und Immernur gehalten hatte, und hatte auf diese Weise die Küste bis hoch nach Port Fallon gesichert, als der Krieg schließlich geendet hatte. Ein Jahrtausend hatte nicht ausgereicht, um die Erinnerungen zu löschen, die ihn immer noch heimsuchten; sie quälten ihn in wachen Augenblicken und plagten ihn im Traum.

Nun schwebten die Geister jener Schlachten nicht mehr über dem Land, wie es bisher immer gewesen war, wenn Anborn Ghant besucht hatte. Als er und Gwydion die Hügel überquert hatten und von der sorboldischen Straße dem Hauptverkehrsweg, auf dem die Güter nach Norden und Osten gebracht wurden – auf den inneren Hafen schauten, bemerkte er sogar aus dieser großen Entfernung, dass die Stadt geschäftiger war denn je. Er zog eine Grimasse, als er sein Pferd zügelte und sich daran erinnerte, dass seine eigenen Soldaten diese Straße gebaut hatten.

Gwydion Navarnes Gedanken wurden nicht von der Vergangenheit heimgesucht, über die er nur wenig wusste. Er starrte verwundert auf den Hafen hinunter.

»Die Geschäfte hier laufen gut, nicht wahr?«, meinte er und beobachtete die Dutzende von Schiffen, die an den Kais des inneren Hafens lagen und geschäftig von kleinen Gestalten entladen wurden, die eher Ameisen als Heuerleuten glichen.

Der Marschall nickte grimmig.