»Gütiger All-Gott«, flüsterte Gwydion.
»Allerdings«, stimmte Anborn ihm zu. »Ihn anzurufen ist vermutlich das Einzige, was noch helfen kann. Wenn das schon so ist, seit Talquist den Thron bestiegen hat, steht deinem Paten ein Albtraum bevor.«
»Könntet Ihr das bitte näher ausführen?«, fragte Gwydion. Seine Hände wurden kalt und begannen zu zittern. Anborn drehte sich ihm zu und befahl dem jungen Herzog zu schweigen.
Von unten war ein Rumpeln zu hören, als eine weitere Wagenkarawane den felsigen Weg hochfuhr. Die beiden Männer sahen zu, wie sie vorüberrollte; eine Kohorte sorboldischer Soldaten bildete die Vor- und Nachhut. Gwydion zuckte beim Anblick der Gefangenen zusammen. Es war eine Schar abgerissener Männer, verloren wirkender Frauen und dürrer, schweigender Kinder, die wie Vieh auf dem Weg zum Schlachthof in die Karren gepfercht waren. Er zählte elf Wagen und vermutete, dass jeder mehr als zwei Dutzend Sklaven enthielt. Während sich in seiner Kehle ein immer festerer Knoten zusammenzog, sah er dem Zug nach, bis der Staub sich wieder gelegt hatte und alle Geräusche erstorben waren. Er lehnte sich über den Rand des Vorsprungs und sah, wie ähnliche Karawanen mit ähnlicher Fracht in andere Richtungen unterwegs waren: in die Berge und die Küste entlang.
»Sagt mir, was dieser Albtraum bedeutet«, bat er schließlich Anborn.
Der General seufzte und beobachtete weiterhin den Hafen.
»Wenn ein Gildenmeister, der sich sein ganzes Leben hindurch als ausgezeichneter Kaufmann erwiesen hat, einen Thron besteigt, ist mit einem gewissen Anstieg des Handels zu rechnen«, sagte er gelassen und sah dabei Gwydion nicht an. »Aber das ist es nicht, was wir hier sehen. Diese Sklaven dienen nicht dem Vergnügen in den Arenen; sie sind zur Warenproduktion bestimmt. Wir beobachten Kriegsvorbereitungen, was ebenfalls nicht erstaunlich ist, obwohl Talquist sich hinter einer Maske des Friedens und Wohlstands versteckt hat.
Was so erschreckend ist, ist das Ausmaß. Wir sind an einem ganz gewöhnlichen Tag hergekommen, ohne entdeckt worden zu sein, und haben daher die Aktivitäten eines ganz gewöhnlichen Tages beobachtet. Wenn das also für Talquist ein ganz gewöhnlicher Tag ist, wenn Ghant wieder zu einem Militärhafen geworden ist und Güter umschlägt, die vollkommen der Krone gehören, dann ist das Ausmaß dessen, was er plant, einfach unvorstellbar. Es stellt sogar die Vorbereitungen zum cymrischen Krieg in den Schatten – und dieser Krieg hätte beinahe den gesamten Kontinent vernichtet.«
»Gibt es noch eine andere mögliche Erklärung?«, fragte Gwydion, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Nein«, sagte Anborn nur.
»Dann müssen wir sofort nach Navarne zurückkehren und Ashe warnen«, meinte Gwydion.
»Genau das musst du tun.«
Der junge Herzog blinzelte Anborn an. »Ich? Ihr kommt nicht mit?«
»Nein. Da ich schon einmal hier bin, sollte ich die Gelegenheit ergreifen. Ich werde ostwärts nach Jier-na’sid reiten und auf dem Weg so viele Häfen, Minen, Felder und Arenen wie möglich ausspähen. Sobald ich in der Hauptstadt angekommen bin, werde ich möglichst viele Informationen einholen; dann komme ich zurück und helfe deinem Paten bei den Vorbereitungen zu dem Krieg, vor dem ich ihn schon seit langem gewarnt habe.«
Gwydion bekämpfte seine Panik, die bereits in seiner Kehle hochgestiegen war und ihn nun zu ersticken drohte.
»Allein?«
Der cymrische Held streckte die Hand aus und packte den jungen Mann an der Schulter.
»Du kannst das, habe keine Angst. Die Ehrengarde ist in der Lage, den Wagen zu verteidigen, falls du angegriffen wirst, und dein Schwert ist ein entschiedener Vorteil gegen alle Räuber, denen du begegnen solltest, und auch gegen Soldaten. Aber dazu wird es nicht kommen, denn Talquist wird sich mit dem Angriff auf einen Adligen des cymrischen Bündnisses nicht die Hände schmutzig machen wollen – zumindest jetzt noch nicht. Du brauchst nur den Weg zurückzufahren, auf dem wir hergekommen sind, Gwydion. Sobald du Sorbold verlassen hast, kannst du an jeder Herberge entlang des Weges anhalten und um Hilfe bitten. Du bist jetzt der Herzog; sie werden dir geben, was du haben willst, einschließlich Vorräten und einem frischen Pferd, und dich zurück nach Navarne eskortieren. Behalte nur alles in Erinnerung, was ich dir beigebracht habe.«
»Ich meinte, Ihr allein«, stammelte Gwydion. »Wie wollt Ihr es durch die sorboldische Wüste schaffen ...?«
Die Stirn des Marschalls wurde zu einem düster drohenden Gewitter. Er stützte sich auf den Ellbogen ab und schlug auf den Boden, was Gwydion den Sand in die Augen trieb.
»Ich habe diesen Kontinent schon allein bereist, als dein Vater noch ein bloßes Jucken in der Hose deines Großvaters war«, brummte er. Dann zog er sich über die Felsen zu der Stelle, wo die Pferde warteten. Schmerzhaft langsam kletterte er an der Flanke seines Reittieres hoch, bis er den Steigbügel erreicht hatte. Gwydion eilte hinüber zu ihm, doch der alte Held drückte ihn fort und zog sich mit großer Anstrengung in eine aufrechte Position, wobei seine nutzlosen Beine unter ihm baumelten. Gwydion blieb nichts anderes übrig als dazustehen und schweigend zu leiden, während er Anborn beim Besteigen des Sattels zuschaute. Als dieser schließlich auf dem Pferd saß, blickte er mit einer Mischung aus Triumph und Erschöpfung auf den jungen Herzog herunter.
»Steig auf«, sagte er mit der dröhnenden Stimme eines Generals. »Ich bringe dich zur Ehrengarde nach Immernur und von da aus nach Jakar zurück. Ich will sehen, was dort in der Arena vor sich geht. Danach bist du auf dich allein gestellt, aber die Grenze zu Tyrian ist dann nicht mehr weit. Ich empfehle dir, die Waldstraße zu nehmen; die Stellung deiner >Großmutter< als lirinische Königin wird für deine Sicherheit garantieren. Sag meinem Neffen, dass ich zurückkomme, sobald ich genau weiß, was in diesem gottverdammten Sandkasten vor sich geht, aber in der Zwischenzeit sollte er Roland und das gesamte cymrische Bündnis aufrüsten. Vielleicht ist es sogar schon zu spät.«
Für den Rest des Heimweges spürte Gwydion seinen eigenen Puls als Trommeln in den Ohren. Das Trommeln wurde lauter, als er Anborn schließlich auf der Kreuzung nach Nikkid’saar verabschiedete, der Spielerstadt im westlichen Stadtstaat Jakar. Vom Wagenfenster der Kutsche aus beobachtete er den alten Helden, seinen Lehrer und Freund, wie er zwischen den endlosen Reihen von Reitern und Fußgängern verschwand, die die Straßen der Stadt verstopften, und hoffte, dass dies nicht das Letzte war, was er je von ihm sehen würde. Dann befahl er der Garde, nach Tyrian im Westen zu reiten und den Rückweg zu seinem Heimatland und der Verantwortung anzutreten, die ihn dort erwartete.
Unablässig dachte er über die Worte nach, mit denen er seinem Paten die Nachricht überbringen würde, dass der Krieg, den Anborn schon seit langem vorhergesehen hatte, nun bevorstand. Er drängte die Ehrengarde, mit doppelter Geschwindigkeit zu reiten, und ließ den Wagen an einer Station kurz hinter der Grenze nach Roland zurück; den Rest des Heimwegs legte er zu Pferd zurück. Während sie über den Boden flogen, dachte er an lauter Belanglosigkeiten, zum Beispiel daran, wie weit vor der Festung er anhalten müsste, um sein Äußeres zu richten, wie er Gerald Owen mitteilen könnte, dass er Ashe sofort sehen wolle, ohne seinen Schrecken dem Bediensteten zu offenbaren, oder wie er die Nachricht überbringen sollte, ohne dabei kindisch und verängstigt zu wirken.
Als er Haguefort endlich erreicht hatte, war Ashe schon fort.
31
Vor dem Fenster der riesigen Bibliothek trieben die Schneeflocken träge im warmen Wind und schmolzen, bevor sie den Erdboden erreichten.
Ashe schaute geistesabwesend aus dem Fenster; das Handelsabkommen über Getreide, das er gerade überarbeitete, langweilte ihn. Sein Drachensinn hatte die Schneeflocken bei ihrem Fallen beobachtet. Die Tauzeit war da, doch der Winter würde bald mit aller Gewalt zurückkehren und das Reisen noch schwieriger machen. Er kicherte in sich hinein, denn er suchte nach Gründen für den Aufbruch.