Rhapsody drehte sich ihm wieder zu. Nun war sie blass. »Aber du hast nicht das Recht, sie zu benutzen«, sagte sie zögernd. »Hier geht es nicht darum, eine Anleitung zu lesen und dann nach ihr etwas zu bauen. Die großen Benenner mussten jahrhundertelang studieren, bevor sie Zugang zu diesen Überlieferungen erhielten. Selbst ich, die ich diese Dinge untersucht habe, bin schrecklich unvorbereitet und begreife nicht alles, was hier niedergeschrieben steht. Ich habe mir das Meiste selbst beigebracht, Achmed. Vergiss nicht, dass viele meiner Studien in Abwesenheit meines Lehrers stattfanden. Trotz all der Zeit, in der ich die Wissenschaft des Benennens angewendet habe, würde ich nicht einmal im Traum daran denken, uranfängliche Magie zu benutzen.«
Achmed deutete auf ihren Bauch. »Was glaubst du denn, wie man die Zeugung eines Drachenbalgs sonst nennen sollte?«, fragte er, unfähig, seinen Abscheu zu verbergen. »Wenn das keine Nutzung uranfänglicher Magie ist, was ist es dann? Du gibst zu, dass du nicht die leiseste Ahnung hast, was aus dieser Schwangerschaft herauskommt. Du, ein Gefäß elementaren Feuers und Äthers, die Trägerin eines Schwertes, das zweifellos deine Seele mit ihren eigenen Kräften geformt hat, Lirin und Mensch und Cymrerin, für immer in der Zeit erstarrt und alterslos – du vermischst dein Blut mit diesem verdorbenen Mischmasch, aus dem Ashes Blut besteht? Was daraus erwächst, könnte sogar das Ende der Welt sein. Behaupte bloß nicht, das sei ausschließlich deine eigene Idee gewesen. Ich weiß genug über Drachen. Mir ist klar, dass dein geliebter Gatte mit deinem Leben spielt, ob er es zugibt oder nicht. All diese Vorwände der Besorgnis über die Gefahren des Lichtfängers! Du solltest dir besser Sorgen über die Gefahren machen, die mit deinem Kind in die Welt kommen – nicht nur für dein eigenes Leben, sondern für die gesamte Zukunft.« Er sah, wie Rhapsody zusammenzuckte, und verspürte sowohl Befriedigung als auch Schuld.
Rasch sagte er: »Hör jetzt auf, mir Predigten über die Gefährlichkeit von unverständlicher Magie zu halten, und gib mir die Übersetzung. Ich versichere dir, dass ich weitaus verantwortungsbewusster mit meinen Angelegenheiten umgehe als du mit deinen.«
»Ich ... ich kann nicht ...«
»Natürlich kannst du! Glaubst du, es ist besser, wenn du mir genaue Anweisungen gibst, oder aber wenn ich mit Gwylliams Bibliothek in Ylorc experimentiere und eine große Zahl Bolg dabei beschäftige? Du könntest auch all das aufgeben« – er machte eine verächtliche Handbewegung in die mit Schätzen und Flechten angefüllte Höhle –
»und mit mir nach Ylorc zurückgehen. Du würdest das Projekt überwachen, dann wüsstest du wenigstens, wie die alten Überlieferungen eingesetzt werden.«
»Nein.«
Wütend packte er ihr Handgelenk. Sofort wollte sie die Hand zurückziehen, hielt aber inne, als sie die Kraft seines Griffs bemerkte.
»Begreifst du, dass du gerade deinen Stand als Benennerin aufs Spiel setzt?«, meinte Achmed leise und starrte direkt in die senkrecht geschlitzten Pupillen ihrer Augen. »Als ich dir und diesem unwürdigen Herzog in Yarim geholfen habe, hast du versprochen, mir bei dieser Sache beizustehen. Wenn du dich jetzt weigerst, war das damals eine Lüge. Du musst dich an deinen Worten messen lassen. Du wirst dein Wahrheitsgelübde brechen und dann ist deine Gabe des Benennens verwirkt.«
Rhapsodys Gesicht verhärtete sich, und sie versuchte wieder, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Dann ist es eben so«, keuchte sie unter dem zwecklosen Versuch, seinen Griff um ihr Handgelenk zu lockern.
»Ich wollte sterben, um dich vom Missbrauch der Überlieferungen abzuhalten, was bedeutet da schon die Opferung einer Berufung?«
Achmed ließ ihren Arm mit einer heftigen Bewegung los.
»Ich wiederhole, dass du mich von nichts abhalten kannst«, sagte er harsch. »Du verpasst nur die Gelegenheit, den Prozess nicht dem Zufall zu überlassen. Darüber solltest du nachdenken.« Er drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Höhlenausgang.
Rhapsody riss entsetzt die Augen auf, deren Smaragdgrün wie Frühlingsgras leuchtete. Achmed bemerkte die Veränderung aus den Augenwinkeln. Er kannte diesen Blick, der sich immer dann in Rhapsodys Augen stahl, wenn sie Angst hatte.
Er blieb im Tunnel stehen und öffnete den Mund, weil er sie fragen wollte, was sie mehr fürchtete: seine Taten oder ihre Tatenlosigkeit.
Dann schloss er den Mund rasch wieder, als er sah, dass blutiges Wasser aus ihr strömte und sich unheilvoll zwischen ihren Füßen auf dem Höhlenboden sammelte.
Innerhalb eines einzigen Herzschlages schien sich die gesamte Welt zu verändern.
Rhapsody betastete ihren Bauch, und ihr Gesicht verzog sich, während sie sich zusammenkrümmte. Sie stieß ein Keuchen aus und stützte sich mit zitternder Hand an der Höhlenwand ab.
Achmed verspürte eine plötzliche Kälte; die Hitze im Tunnel ließ nach und löste sich auf. Sein Zorn schmolz; benommen ergriff er Rhapsodys Arm und stellte fest, dass ihr Körper so kalt war, als ob das elementare Feuer in ihr ausgelöscht worden wäre.
Die Luft im Tunnel knisterte. Die Drachin erschien und glitt wie ein flüssiger Blitz über den Haufen aus Silber. Ihre vieltonige Stimme hallte vom Wasser und den Höhlenwänden wider.
»Meine Schöne?«
Rhapsody bemühte sich, stehen zu bleiben, doch ihre Beine gaben nach, und sie fiel zu Boden. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen, und sie keuchte erneut auf.
»Dein Gemahl kommt«, sagte die Drachin. Ihre Stimme war so fest und bestimmt wie die Ewigkeit, doch Achmed bemerkte, dass in den Augen der Bestie Bestürzung aufleuchtete. »Ich fühle ihn am Rande des Flusses, kaum eine Meile entfernt.«
Rhapsodys Blick begegnete Achmeds. »Krinsel«, flüsterte sie. »Bitte.«
Achmed kämpfte gegen die Galle in seiner Kehle an. Er fuhr mit der Hand an Rhapsodys Arm entlang und drückte ihr die Hand, dann ließ er sie wieder los, bückte sich und tauchte den Saum seiner Robe in ihr Blut. Sofort rannte er den Tunnel hinunter.
Er traf die Hebamme am Höhleneingang an. Den Befehl, Rhapsody zu Hilfe zu eilen, gab er auf Bolgisch, denn es war eine knappe und gutturale Sprache, die wenig Anstrengung kostete. Als die Frau in die glimmernde Finsternis huschte, atmete Achmed tief durch, dann trat er aus der Höhle und hielt den Saum seines Gewandes in den Wind.
Er wartete ungeduldig, bis der Wind den Geruch des Blutes aufnahm, dann drehte er sich um und eilte zurück in den dunklen Bauch des Drachennestes.
Zwei Meilen entfernt hörte Ashe am Nebenfluss des Tarafel auf zu trinken und erhob sich. Er ließ die Tropfen in seiner Hand auf den schneebedeckten Boden fallen, wo sie sofort zu Eiskristallen erstarrten, und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um Nase und Augen abzuwischen.
Sein Drachensinn dehnte sich aus und erwachte aus seinem Schlaf. Die kleinsten Einzelheiten in seiner Umgebung wurden riesig. Er bemerkte die winzigsten Lichtfäden und Klangstränge aller Dinge unter der Sonne und im Wind, der wie ein Tuch über der Erde lag. Jeder gefrorene Grashalm auf jedem getauten Fleck unter jedem blattlosen Baum, jede Feder jedes Wintervogels über ihm, jeder eisbedeckte Zweig eines jeden Busches war ihm oder zumindest der uralten Bestie in seinem Blut überdeutlich.
Im Wind konnte er die Blutstropfen mit größerer Gewissheit zählen, als er seinen eigenen Namen kannte. Mehr noch – in ihr Blut war anderes gemischt, das ein Widerhall seines eigenen war.