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In diesem Augenblick drehte sich Ashe um und überblickte das Land zwischen der Stelle, wo er stand, und der Drachenhöhle. Zwei Meilen im Rabenflug, dachte er und bezwang die Angst, die nun in ihm aufstieg wie die Drachensinne kurz zuvor. Mindestens zehn Meilen, wenn er den Fluss an einer genügend seichten Stelle durchqueren und die undurchdringlichsten Stelen des jungfräulichen Waldes umgehen wollte, in den noch nie ein Pfad geschlagen worden war und wo der Schnee hoch lag.

Für den Bruchteil einer Sekunde schien der Wald um ihn mit Hindernissen durchsetzt zu sein, die ihn von seinem Schatz trennten: schneebedeckte, lauernde Wurzeln und weiße Hügel, Kuppen und andere Erhebungen, die den Wald mit dickem Frost schützten, der auch beim Einsetzen der Tauperiode nicht geschmolzen war.

Doch dann rückten plötzlich alle Hindernisse fort, als sein Drachensinn in eine neue Dimension vorstieß. Die Drachennatur übernahm die Führung; sie erhob sich in ihm, gewann den Kampf und schwang sich über ihn und die Natur in seiner Umgebung auf. Ein Pfad strahlte in seinem Kopf wie ein Leuchtfeuer, ein ätherischer Führer zu Elynsynos’ Höhle.

Und als seine Drachennatur die Oberherrschaft gewann, spürte Ashe, wie sich die Fesseln seiner Beherrschung lösten, die er fest in seinem Innern geknüpft hatte; es war eine Antwort auf die Macht der Elemente um ihn. Sein Körper blieb zunächst noch menschlich, auch wenn sein Geist nun der eines Drachen war. Er rannte los, geradewegs in die Baummauer hinein, die ihm von dem fern hielt, was der Drache in seiner Seele als sein Schatz ansah.

Seine Frau und sein ungeborenes Kind.

Beuge dich mir, lass mich durch, befahl die vieltonige Stimme in seiner Seele.

Und die Erde gehorchte.

Bäume zuckten im Wind, ihre Stämme beugten sich in beinahe unmöglichen Winkeln und gaben den Weg frei. Erhebungen aus schneebedecktem Gebüsch teilten sich; der schlammige Boden wurde vor ihm hart; alles ordnete sich der Erdenmacht unter, aus der seine Vorfahren hervorgegangen waren. Der plötzlich verstummte Wald schien den Atem anzuhalten, als der Mann, der durch ihn stürmte, aus der Luft um ihn Kraft saugte und durch das Gehölz brach, als wäre es nicht mehr als Wind.

Einen Augenblick später war es trocken und knisterte, als ob Ashes Gegenwart ihm das Leben ausgesogen hätte. Während er lief, verließen alle Gedanken Ashes Bewusstsein und sanken tiefer in die Drachennatur in seinem Blut, bis ein einziger Gedanke – zu Rhapsody zu kommen – ihn völlig beherrschte. Dieser Vorrang verhalf ihm zu noch größerer Geschwindigkeit, und bevor er es bemerkte, stand er schon vor dem Eingang zu Elynsynos’ Höhle. Er keuchte vor Erschöpfung und schwitzte vor Schrecken.

Vor dem Höhleneingang wurde sein Drachensinn plötzlich von einer größeren Macht unterdrückt, die an diesem Ort herrschte. Ashe blinzelte und lauschte. Aus den Tiefen der Höhle hörte er ein scharfes Jammern, ein Schluchzen der Verzweiflung und des Schmerzes, eine Stimme, die er nur allzu gut kannte. Das Blut gefror ihm bei diesen Lauten der Qual; Schweiß prickelte auf seiner Haut, und Übelkeit drohte ihn zu verschlingen. Vor ihm im Höhleneingang stand eine Bolg-Frau, eine dunkle Hebamme mit ernstem Gesicht. Er erinnerte sich schwach, dass Rhapsody sie ihm vor vielen Jahren einmal vorgestellt hatte. In der bolgischen Kultur wurden Hebammen als besonders mächtig angesehen; die Bolg glaubten, man müsse den Kindern das Beste geben, was ihre groben medizinischen Fähigkeiten zu bieten hatten, weil sie die Zukunft verkörperten und wichtiger waren als die besten Krieger, die man an ihren Wunden sterben ließ. Die Hebammen waren eine stahlharte Gruppe und stellten auch in Achmeds neuer Gesellschaftsordnung eine wichtige politische Kraft dar. Diese stillen, sturen Frauen zeigten nur sehr selten Gefühle oder Schmerz.

Daher war es für Ashe noch beängstigender, den Ausdruck tiefster Angst in den Augen der Frau vor ihm zu sehen.

Er kämpfte um Worte. »Meine Frau?«, fragte er. »Mein Kind?«

Die Bolg-Frau atmete langsam aus und sprach drei Worte in der gemeinsamen Sprache des Kontinents.

»Es tut mir Leid«, sagte sie.

34

Die Krevensfelder — Roland

Die Tage des endlosen Schnees flössen eintönig ineinander.

Weil es nichts weiter zu verstehen gab, verengte sich Farons Geist immer weiter. Er hatte alle Erinnerungen bis auf eine verloren, hatte sich an seinen neuen Körper und seine neue Wirklichkeit gewöhnt und richtete all seine Aufmerksamkeit nur auf ein einziges Ziel. Meile für Meile folgte er dem Winterpfad durch weites Bauernland entlang der gefrorenen transorlandischen Straße, welche den Kontinent teilte. Hier herrschte nur wenig Verkehr. Die Tauperiode war gekommen und die Leute in den Städten und Dörfern von Roland waren damit beschäftigt, Dinge instand zu setzen, Torf zu stechen und Holz und Dung als Brennmaterial zu horten, denn sie warteten auf die Rückkehr des Winters. Die Macht der Erde war stark in Faron und hatte ihn gelehrt, mit der Landschaft zu verschmelzen. Entweder deshalb oder weil niemand da war, der ihn hätte sehen können, ging er unbemerkt seines Weges.

Nun folgte er einem Laut, einem fernen Ruf mit einer Schwingung, die er sein ganzes Leben hindurch gekannt hatte. Es war das alte, uranfängliche Lied der Schuppen, die er verloren hatte. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, diese Melodie zu vergessen, hätten die Schuppen, die noch in seinem Besitz waren, ihn wieder daran erinnert, denn ihre summende Macht durchdrang seinen Steinkörper.

Oft führte der Lärm des Tages dazu, dass der Ruf unterdrückt wurde, und wenn das geschah, wurde Faron über alle Maßen wütend. Der Ruf eines Wintervogels oder der Formationsflug von Gänsen über ihm brachte ihn dazu, auf seinem Schneeweg anzuhalten und stille Flüche in einer seit langem toten Sprache zu murmeln, die tief in seinem Hirn vergraben lag. Ihn verlangte nach der Stille der Welt, denn in dieser Stille konnte er den Ruf deutlich hören. Sobald er ihn erkannte, folgte er ihm unablässig.

Bis er eines Nachts fand, wonach er gesucht hatte.

Er war zur Spitze einer kleinen Erhebung über einem schmalen Tal gekommen und stand nun auf einem der welligen Hügel des orlandischen Plateaus in der weiten Ebene der Krevensfelder, und da lag es unter ihm. Der Vollmond schien so hell wie die Sonne. Sein Licht fiel auf die schneebedeckten Felder, die silbrigblau erstrahlten. Sogar in der Dunkelheit war das Mondlicht so grell, dass er die farbenfrohen Wagen und die purpurnen und zinnoberroten Flaggen erkennen konnte, die tagsüber von den Pferden gezogen wurden. Die Tiere waren nun zusammen untergebracht und für die Nacht zugedeckt worden. Sie allein bemerkten die Bewegung in der Erde und wieherten in aufkommender Panik.

Im Lager des Zirkus brannten Fackeln und sandten Funken himmelwärts, die mit dem strahlenden Mondlicht tanzten.

Um die Feuer saßen einige Männer, die als Wächter und Handlanger dienten, und tranken abgestandenes Bier und erzählten noch abgestandenere Witze. Der bucklige Kartenabreißer hatte mehr getrunken, als er vertrug, und wurde nun als menschlicher Ball in einem grotesken Spiel hin und her geworfen, wogegen er anscheinend nichts einzuwenden hatte, denn er kicherte laut. Das Lachen hallte von der leeren Welt der Hänge und Hügel um sie herum wider und verflog in der Nacht. Es verhüllte den Ruf der Schuppen.

Malik hielt den zerbeulten Krug gegen die Lippen, blies den schmutzigen Schaum ab und verschüttete Bier in seinen Bart, während er lachte. Er hatte in dem Versuch, sich zu wärmen, die Beine an die Brust gezogen und nahm nun am Rande seines Blickfeldes eine Bewegung wahr.

Er schaute hin, spähte in die Finsternis, doch was immer es gewesen sein mochte, es war wieder verschwunden. Bloß ’n Schneeteufel, entschied er und nahm noch einen Schluck. Wird ’nen verteufelten Wind geben heut Nacht.

Der Wagen, der ihrem Feuer am nächsten stand, hob sich plötzlich mit den Hinterrädern vom Boden, wurde wieder auf die Erde geschleudert und brach entzwei.