Für den Bruchteil eines Augenblicks war auf der weiten Ebene nichts anderes zu hören als das Splittern von Holz. Dann setzte das Kreischen ein.
Die Missgeburten, die den ersten Angriff im Wagen überlebt hatten, schrien los; ihre harten, fremdartigen Stimmen erhoben sich zu einem dissonanten Jammern, das durch den Winterwind und das Knistern des Feuers schnitt und sich mit dem angstvollen Wiehern der Pferde mischte. Malik und die anderen, die um das Feuer saßen, warfen sich zunächst zu Boden, bedeckten das Gesicht und kamen dann entsetzt wieder auf die Beine. Der Mund des Aufsehers bebte und bildete zwei Worte:
»Was zum ...«
Da rutschte der nächste Wagen seitwärts auf sie zu, als wäre er mit Schwung von hinten geschleudert worden. Er prallte gegen den ersten; die Schreie verdoppelten sich, und die Nachtluft wurde erfüllt von scheußlichem Knirschen und Reißen.
Nun wurde auch der zweite Wagen in die dunkle Luft gehoben und genauso geworfen wie der Bucklige noch kurz zuvor – mitten zwischen die Männer.
Malik hatte das Glück, eine gute Position und schnelle Reflexe zu haben. Er warf sich in den Schnee und rollte nach links, scheuerte sich zwar vom Gesicht bis zu den Knien auf, wurde aber nicht zerschmettert wie die drei anderen Männer, mit denen er eben noch getrunken hatte.
Während die Kakophonie um ihn herum anschwoll und ihm das Blut wie verrückt in den Ohren rauschte, versuchte Malik zu begreifen, was hier geschah und warum ein angenehmer nächtlicher Umtrunk plötzlich zu einem Nachtmahr geworden war. Ihm kam lediglich der Gedanke, ein schrecklicher Wintersturm habe sich wohl aus dem Nichts erhoben, die Wagen ergriffen und sie durch die Luft gewirbelt.
Er kämpfte gegen Schwindel und Galle an, die ihm in die Kehle stieg, und glaubte einen Schatten zwischen dem Feld der Verwüstung und dem dritten Wagen zu sehen, aus dem weitere Missgeburten des Zirkus strömten und vor Verwirrung und Furcht winselten. Im schwachen Licht des sterbenden Feuers, um das die Männer gesessen hatten, schien ein menschlicher Schatten zu lauern, den die zuckenden Flammen zum Riesen machten.
Das Dach des nächsten Wagens brach auseinander, während der Chor der Verwirrung sich zu Schreien des Grauens wandelte.
Diesmal schaute Malik rechtzeitig über den Wagen und erkannte die Umrisse von zwei riesigen Armen und einem Oberkörper, der wütend niederfuhr. Der Schatten packte den Wagen und schüttelte ihn heftig, sodass alle Geschöpfe, die sich noch darin befunden und herauszukommen versucht hatten, auf den schneebedeckten Boden geworfen wurden, wo sie sich mit himmelwärts gerichtetem Blick zusammenkauerten, während das Wesen den Wagen mit einem schrecklichen Lärm auf sie warf.
Im dämmrigen Licht des Lagerfeuers glaubte Malik nun den gesamten Umriss zu erkennen. Kurz hatte er geglaubt, eine der Missgeburten laufe umher, um blindwütig zu töten. So etwas war schon früher passiert, und viele der Ausstellungsgeschöpfe waren sehr stark. Doch als der ungeheuerliche Schatten durch den Schnee zum Wagen des Zirkusdirektors schlurfte, erkannte er, dass der Angreifer keine Missgeburt und auch kein Geschöpf war, das er je zuvor gesehen hatte.
Er war schon fast bei der Unterkunft des Zirkusdirektors angekommen.
»Feuer frei!«, rief er krächzend den Männern zu, die Wache gestanden hatten, während er und die anderen mit dem Buckligen gezecht hatten. Die Männer zielten zitternd mit ihren Armbrüsten. Sie hatten nun freien Blick, und ihr vor Entsetzen erstarrter Gesichtsausdruck verriet, dass sie etwas Schlimmeres sahen, als Malik sich je vorstellen konnte. Sein Ruf schien sie wachzurütteln. Gleichzeitig feuerten sie. Einer der Pfeile flog an dem Koloss vorbei, aber die anderen drei fanden das Ziel, das kaum zu verfehlen war, obwohl es sich bewegte.
Die Pfeile prallten ab oder zerbrachen, als ob man sie auf eine Steinwand abgefeuert hätte.
»Noch einmal!«, kreischte Malik, doch zwei der Schützen hatten schon ihre Waffe fallen gelassen und rannten fort, während der dritte reglos dastand. Nur einer der Wächter besaß die Geistesgegenwart, erneut zu schießen, als die herannahende Erde in Menschengestalt mit der geballten Faust auf den reglosen Schützen einschlug. Zwischen dem Blutgegurgel und Knochenbrechen war ein leises metallisches Klirr zu hören.
Die Statue richtete sich wieder auf, griff sich neben das Ohr und war für einen Augenblick gelähmt. Malik erkannte die Gelegenheit. »Lauft!«, rief er jedem zu, der noch erstarrt in der Nähe stand. Er wedelte wild mit den Armen und sah sich um. »Emmi? Emmi, Liebes, wo bist du?«
»Hier, Malik«, antwortete eine dünne, erschrockene Stimme hinter ihm, als Entenfuß-Emmi auf der Trittleiter eines der ineinander geschobenen Wagen erschien und ihn zu verlassen versuchte.
Beim Klang ihrer Stimme hielt der Riese inne und richtete die blicklosen Augen auf sie, die im Schein der Fackeln an den verbliebenen Wagen blau und milchig aussahen.
Dann schlenderte er in ihre Richtung, wobei er ihrer Stimme folgte.
Malik stellte sich zwischen die beiden und begriff, was die Statue vorhatte. »Lauf, Emmi!«, brüllte er, während er einen zerbrochenen Zeltpfosten ergriff. »Er ist hinter dir her! Lauf!«
Der Riese wischte ihn weg wie ein Blatt im Wind, brach ihm die Knochen und warf ihn in mehreren getrennten Teilen auf den Schnee.
Entenfuß-Emmi und die Missgeburten in ihrer Nähe kreischten auf. Dieses Geräusch schien den herannahenden Titan noch wütender zu machen. Er wurde schneller und noch bedrohlicher. Eine Sekunde lang rüttelte etwas am Portal des Wagens, dann packte die Missgeburt, die als Menschlicher Bär bekannt war, Emmi von hinten und warf sie über die Veranda vor die Füße der Statue.
Sie kreischte, als sie zu Boden fiel, schaute auf und erkannte zwei unirdische, sie eindringlich anstarrende Augen, deren Pupillen aus Stein bestanden; doch die Iris war blau und von milchigen Wirbeln überzogen. Entsetzen und Tränen erstickten sie beinahe. Entenfuß-Emmi schlitterte ein wenig nach hinten, doch die vielen raschelnden Röcke und Schürzen behinderten sie. Stumm murmelte sie Gebete, an die sie sich aus der Kindheit erinnerte, obwohl sie ihre Bedeutung schon lange vergessen hatte.
Der Titan beobachtete sie weiter und blieb unbeweglich. Er sah zu, wie sie weinte, und kniete sich schließlich vor sie, wobei er die Pfeile, die ihm vom Rücken und der Seite abprallten, nicht weiter zu bemerken schien. Die Statue ballte eine gewaltige Hand zur Faust. Emmi und alle anderen Missgeburten, die entweder im Wagen gefangen oder starr vor Schreck waren, keuchten auf.
Schweigen fiel über das verwüstete Lager; nur das Knistern der verbliebenen Feuer sowie das leise Jammern der Sterbenden waren noch zu hören.
Der Titan streckte langsam die Hand aus und fuhr der entsetzten Frau mit den Steinknöcheln über die Wange. Dabei scheuerte der raue Stein sie ein wenig auf, doch er wischte ihr die Flut der Tränen ab, die ihr über das Gesicht geströmt war.
So wie sie es früher bei ihm immer getan hatte.
In den Augen der erschrockenen Frau zeigte sich kein Erkennen.
Schließlich kam der Zirkusdirektor aus seinem Wagen am anderen Ende des Lagers und stopfte sich das Nachthemd in die gestreifte Hose. Eine doppellippige Frau folgte ihm.
»Was ist hier los?«, rief er mit rumschwerer Stimme, in der Verärgerung über das unerfüllte Verlangen mitschwang.
Als die entsetzte Stille gebrochen war, schrien die Missgeburten und Helfer, unter ihnen auch Entenfuß-Emmi, wieder auf.
Der Kopf der Statue schnellte hoch.
Einen Augenblick lang verspürte Faron ein Gefühl, das er nicht mehr gehabt hatte, seit er in den Körper aus Lebendigem Gestein eingesperrt worden war. Es war das Gefühl der Traurigkeit.
Sie mich nicht erinnert, dachte er.
Darin lag etwas Verheerendes. Ohne Emmi und ihre Freundlichkeit gab es niemanden mehr auf der Welt, der ihn aus seinem früheren Leben kannte.
Der ihn so geliebt hatte, wie er gewesen war.
Er hielt die freie Hand an sein Ohr, wo der Schuss einen Riss in sein Fleisch gegraben hatte. Er fühlte keinen Schmerz, sondern hatte nur den Eindruck, dass die verletzte Stelle auf eine Weise eintrocknete, wie es bei seinem übrigen Körper nicht der Fall war, so als ob der Stein dort nicht mehr lebendig sei.