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Plötzlich hörte er es klarer: den Gesang der Schuppen.

Er warf den Kopf hoch, doch gleichzeitig ertönte wieder der Lärm des lebendigen Abfalls, übertönte das Lied der Schuppen und hinderte ihn daran, sie zu finden.

Er schüttelte den Kopf, versuchte den Lärm zu vertreiben, doch damit machte er ihn nur noch schlimmer. Am lautesten war es unmittelbar vor ihm.

Er öffnete die geballte Faust, umfasste mit den Fingern Emmis Hals und drückte zu, bis der Lärm aufhörte. Mit Entsetzen beobachtete der Rest des Monstrositätenkabinetts, wie der Riese Emmi den Kopf von den Schultern riss und ihn neben sich zu Boden warf; dann richtete er sich wieder auf und wandte sich langsam in Richtung des Zirkusdirektors.

Der Direktor stolperte barfuss die wenigen Stufen von seinem Wagen hinunter in den Schnee.

»Tut doch was, ihr missgebildeten Narren!«, kreischte er die verbliebenen Wachen an. Sie drehten sich um und flohen zusammen mit all jenen Missgeburten, die sich noch bewegen konnten, in die Dunkelheit der Krevensfelder. Die Frau, die er vorhin zu beschlafen versucht hatte, keuchte abgehackt und rannte zurück in den Wagen des Direktors. Ihr Irrtum wurde kurz darauf deutlich, als der Riese den Vorbau des Wagens packte und diesen über den Kopf des Zirkusdirektors schwang. Der Wagen schlug mit der Tür nach unten auf den Boden, was ein Entkommen unmöglich machte.

Der Zirkusdirektor erstarrte. Er blickte wild um sich und suchte nach einem Ausweg, doch der Pfad hinter ihm war durch den zerschmetterten Wagen blockiert. Der Körper der doppellippigen Frau hing aus dem eingeschlagenen Fenster.

Vor ihm erhob sich ein gewaltiger, wütender Schatten, geformt aus Stein, doch mit den Bewegungen eines Menschen.

Eines Menschen mit mörderischem Zorn in den Augen.

Rasch vergrub der Eigentümer des Monstrositätenkabinetts die Hände in den Hosentaschen und tastete blind nach Wertvollem, obwohl es sehr unwahrscheinlich war, dass etwas so Zerstörerisches mit Juwelen oder Gold besänftigt werden konnte; aber ihm fiel nichts Besseres ein.

Seine zitternde Hand fand etwas Scharfes mit rauem Rand. Es war das eingerissene blaue Oval, das er vor langer Zeit aus dem Bauch des Fischjungen entfernt hatte. Er hatte es als Glücksbringer behalten; außerdem strahlten seine Schwingungen warm und anregend auf den Unterkörper ab. Er packte die Schuppe und warf sie in die Dunkelheit vor die Füße des Titanen.

Faron blieb sofort im Schnee stehen.

Die Schuppe glitzerte vor ihm; sie spiegelte den Feuerschein und das irre Licht des Mondes wider. Es war die Wahrsageschuppe, der blaue Talisman mit dem Bild eines von Wolken eingerahmten Auges auf der konvexen und eines von den Wolken verborgenen Auges auf der konkaven Seite. Es war die Schuppe, in der er erstmals diesen Ort gesehen und eine Spur der Frau mit dem langen Haar entdeckt hatte, nach der er auf Befehl seines Vaters hatte suchen müssen. Die Schuppe hatte seinem Vater geholfen, mitsamt seiner Piratenflotte sein Ziel zu finden. Es war wohl Farons größter Schatz, und dessen Verlust hatte ihn aller Hoffnungen beraubt. Nun lag sie unbeschädigt vor seinen Füßen und sang ihr klares, glockenhaftes Lied.

Ehrerbietig bückte sich Faron und hob die Schuppe auf, dann hielt er sie triumphierend gegen das Licht des wolkenumrahmten Mondes.

Er drehte sich um und ging fort, versunken in der Freude über einen wiedergewonnenen Schatz.

Hinter ihm stieß der Zirkusdirektor einen rauen Seufzer der Erleichterung aus.

Faron blieb abrupt stehen.

In seiner Träumerei über die Wiederentdeckung der Schuppe hätte er beinahe vergessen, welche Qualen er erlitten hatte, als ihm die Schuppe entrissen worden war, und wie schrecklich es gewesen war, sich zur Schau stellen zu müssen, immerwährend missbraucht zu werden und einsam in der Dunkelheit eines polternden Zirkuswagens zu schwimmen. Damals hatte er diese Pein nicht verstanden, und auch jetzt begriff er sie nicht. Aber er erinnerte sich an sie.

Er dachte an Entenfuß-Emmi, die ihn mit ihren Klauen verteidigt hatte, doch der Zirkusdirektor hatte sie mit dem Handrücken ohnmächtig geschlagen. In seinem einfachen Geist erinnerte sich Faron nicht mehr daran, was er selbst soeben mit Emmi getan hatte, doch die Wut über diesen Mann mit der gestreiften Hose und alles, was er Faron angetan hatte, kehrte mit Macht zurück.

Er drehte sich um und war im nächsten Augenblick bei dem Zirkusdirektor. Der Mann hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit, den Mund zu öffnen und einen Schrei auszustoßen, bevor Faron ihn in den zerschmetterten Wagen warf. Nun griff er zum ersten Mal, seit er seinen neuen Körper aus Lebendigem Gestein besaß, aus schierer Vergeltungsfreude an und zerstampfte den leblosen Körper zu Brei; dann warf er ihn in die Nacht, wo ihn am nächsten Morgen nicht einmal die Aasfresser erkannten.

Nun schwoll das Lied der Schuppen in seinen Ohren an und übertönte das Jammern im Wind, das Winseln der Verletzten, die Schmerzesschreie der Sterbenden. Es war das Einzige, was er hörte, und es trug ihn. Er lauschte, wie in der Ferne die letzten Töne erklangen und ihn zu den anderen riefen. Faron drehte sich um und folgte ihnen südwärts, fort von den zerschmetterten Überresten des Zirkus.

Nach Jierna’sid.

35

Ylorc

Kurz bevor der Angriff auf das Bolgland begann, verspürte Grunthor eine dunkle Vorahnung, die nichts glich, was er in all seinen Kriegsjahren empfunden hatte. Es war nicht Angst und auch nicht Übelkeit oder jenes Klopfen im Schädel, das jeder Befehlshaber fühlt, wenn etwas nicht stimmt. Diese Gefühle hätte er sofort erkannt. Diesmal war es eher eine künstliche Abwesenheit jeglicher Besorgnis, als ob ein unbekanntes Wesen in seine Kriegerseele gegriffen und jeden Instinkt, jede antrainierte Vorsicht herausgerissen hätte, die er von Geburt an gehabt und während seines langen Soldatenlebens weiter entwickelt hatte.

Kurz gesagt: Er fühlte nichts.

Plötzlich waren alle unbewussten Warnzeichen, die bei einem andauernd wachsamen Menschen mit jedem Atemzug auf ihn einstürmten, verschwunden, als ob es auf der ganzen Welt nichts gäbe, worüber man sich Sorgen machen müsste. Dieses Gefühl ging nicht mit einer falschen Empfindung des Wohlbehagens einher, sondern war lediglich eine völlige Taubheit gegen die immerwährende Notwendigkeit, auf der Hut zu sein. Wenn er über diesen plötzlichen Wegfall seiner soldatischen Wachsamkeit nicht so entsetzt gewesen wäre, hätte er erkannt, worum es sich dabei handelte. Es hätte jedoch keinen Unterschied bei den folgenden Ereignissen gemacht und ihn vielleicht nur noch ängstlicher gestimmt.

Dieses Gefühl des völligen Nichts, das seine Sinne betäubte, war die vollkommene Zerrüttung seiner Erdenmacht, welche von einem Drachen aufgesogen wurde.

Der elementare Herzschlag, der in seinem Blut klopfte und sich im Gleichklang mit dem Puls der Welt befand, verschwand. Es wäre nicht erschreckender gewesen, wenn sein eigenes Herz plötzlich zu schlagen aufgehört hätte. Seine Verbindung zur Erde, so tief und innerlich, ging verloren und ließ ihn für den Bruchteil eines Atemzugs benommen und erstarrt zurück, bis er wieder tief Luft geholt hatte und sein Herzschlag sich beruhigte. Als er sein vollständiges Bewusstsein wiedererlangt hatte, erzitterte bereits der Boden.

Rhapsody hatte der unterirdischen Grotte mit dem kleinen Häuschen und den Gärten inmitten eines dunklen Sees den Namen Elysian gegeben; diesen Namen hatte das Schloss des Königs getragen, der über Serendair geherrscht hatte. Als Tochter eines menschlichen Bauern und seiner lirinischen Frau war sie auf den weiten Feldern unter dem offenen Himmel aufgewachsen und hatte nie zuvor etwas so Bezauberndes zu Angesicht bekommen wie die stille Einsamkeit des dunklen Sees, der mit kleinen Flecken aus Sonnenlicht gesprenkelt war, das durch in die Felsendecke gebohrte Löcher fiel. Auch das Schloss von Elysian hatte sie nie gesehen, doch hatte allein schon das Wissen darum in ihrer Kindheit magische Bilder in ihr heraufbeschworen, und daher hielt sie diesen Namen für angemessen.