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Lange vor ihrer Zeit hatte der Ort andere Namen getragen. Die Firbolg nannten den Kreis aus zerklüfteten Felsen über der Höhle, der sie vor den Blicken und dem Wind der Oberwelt schützte, Kraldurge, was in ihrer Sprache so viel wie Reich der Geister bedeutete. Ob diese Bezeichnung vom Jammern des Windes in der Senke zwischen den Felsen herrührte oder einen tieferen Grund hatte, wusste keiner mehr. Jedenfalls war der Name treffend, denn sowohl der dunkle unterirdische See als auch die Wiese darüber enthielten unheilige Geheimnisse. Nicht vergebene Sünden lasteten auf ihnen, an die sich nur ein einziges lebendes Wesen erinnern konnte – die Bestie, die sie bis zu ihrem Erwachen am Ende des Sommers ebenfalls vergessen hatte.

Es war dieser Ort voller dunkler Geheimnisse, an den die Drachin zuerst ging. Sie bohrte sich still durch die Erde und saugte deren magische Kraft in sich auf. Ihr angeborener Sinn leitete sie unfehlbar wie ein Leuchtfeuer aus der Ferne hierher, wo sie einst so etwas wie ein Nest gehabt hatte, einen Zufluchtsort innerhalb der Berge, über die sie geherrscht hatte. Ihr verhasster Gemahl hatte ihr diesen Ort geschenkt, hatte ihn sogar für sie errichtet, doch daran erinnerte sie sich nicht mehr. Sie wusste nur noch, dass er ihr gehört hatte und sie hier betrogen worden war.

Mehr noch – sie hörte den Widerhall ihres Namens in der unterirdischen Grotte und spürte ihn im Wind der Wächterfelsen über sich, gefangen in endlosen Kreisen, unablässig in einem ewigen Heulen der Verzweiflung wiederholt:

Aaaaaannnnnnnnnwwwwyyyyyyynnnnnnnnnnn!

Nun befand sie sich an dem Ort, an dem dieser Name ausgesprochen worden war, und sie spürte den Hass, die Niedertracht und die böse Erinnerung an das lange vergangene Vergnügen der Rache. Was immer es gewesen war, das diesen Schrei hervorgerufen hatte, es besaß einen angenehmen Geschmack. Obwohl sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, musste es köstlich gewesen sein.

Während sie unter der Grotte wartete und ihre Rückkehr an diesen Ort genoss, kam ihr ein weiterer bitterer Geschmack in den Mund. Er ähnelte dem Parfumgeruch einer anderen Frau auf den Laken oder einem fremden Geschmack auf den Lippen des Geliebten. Zuerst war die Drachin abgestoßen und spuckte aus in dem nutzlosen Versuch, den Mund davon frei zu bekommen, doch schließlich begriff ihr beeinträchtigter Verstand, worum es sich handelte.

Dieser Ort über ihr, der See und die Gärten, die Insel und die Hütte gehörten in jeder Hinsicht nun jemand anderem.

Genau in dem Augenblick, in dem sie dies erkannte, wurde ihr auch etwas anderes klar: Die Person, die sie an diesem Ort ersetzt und ihr bewusst oder unbewusst ihre Vergangenheit und ihr Reich gestohlen hatte, war dieselbe Frau, deren nebelhaftes Gesicht und grüne Augen sie in ihren Wachträumen heimsuchte.

Während ihre Wut stieg, wurde sie sich immer sicherer und beruhigte sich allmählich.

Denn die Drachin wusste, dass sie an diesem Ort die verachtete Frau riechen, ihre Essenz einsaugen und in ihre Haut, ja, in ihr ganzes Wesen aufnehmen konnte.

Und dadurch vermochte sie der Frau nachzuspüren, bis sie sie gefunden hatte.

Die Drachin empfand nicht die Notwendigkeit, den Grund für ihren Hass zu kennen oder ihre Rachlust zu begreifen. Die Welt um sie herum war noch immer verschwommen und hatte jegliche Bezugspunkte verloren; auch waren alle Verbindungen zwischen Gedanken und Handlung gekappt. Sie wusste nur zwei Dinge genau: Sie trug eine unerschöpfliche Quelle beißenden Ärgers in sich, und Zerstörung linderte ihre Qualen ein wenig. Ich sehne mich nach Erleichterung, sagte sie sich, als sie an der unterirdischen Quelle entlangglitt, aus der sich der See speiste. Sie spürte, wie das Wasser sie erkannte und an diesem Ort wieder willkommen hieß. Dafür kann man mich bestimmt nicht tadeln.

Sie tauchte aus dem Gestein am Grund des Sees auf und sog den Rest der Erdmagie wie Atemluft ein. Aus der unendlichen Dunkelheit der Erde drehte sie sich hoch zum gedämpften Licht über der Wasseroberfläche und schwamm so schnell, wie es ihre Wut erlaubte.

Die Drachin schoss vorbei an Fischen, die in der Tiefe lebten und in entsetzten Schwärmen davon schössen, an hauchdünnen Kristallfäden, die in großen, kathedralenhaften Bogen aus strahlenden Farben aufstrebten, und brach schließlich aus dem Wasser hervor. Sie schwang sich auf das felsige Ufer der winzigen Insel in der Mitte des dunklen Sees.

Dort lag sie kurz und holte Luft, dann hob sie den Kopf und betrachtete den Ort, an dem ihr Name ausgesprochen worden war.

Der vor langer Zeit ausgestoßene Schrei hatte seinen Ursprung tatsächlich in der Welt oberhalb dieses Ortes. Sie hörte, wie er durch den Felsen jammerte und wütend im Wind tanzte, der zwischen den kreisförmigen Bergen des Kraldurge hindurchpeitschte. Hier, unter dem Ort, wo es geschehen war, waren die Erinnerungen stark genug, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen.

Die Drachin wich vom Ufer zurück und zog den Rest ihres Körpers aus dem Wasser. Wasser neigte dazu, Schwingungen zu verschleiern, besonders wenn sie alt waren, oder sie zu verzerren, und die Bestie wollte alles, was sie an diesem Ort entdecken mochte, ganz deutlich wahrnehmen. Woher sie dies wusste, war ihr nicht klar, aber sie dachte nicht weiter darüber nach.

Denn ihre empfindlichen Nüstern hatten bereits den Duft der Frau eingefangen.

Die durchdringenden blauen Augen der Drachin suchten die dunkle Insel ab.

In ihrer Mitte stand eine kleine Hütte, umgeben von Gärten in tiefem Winterschlaf, die seit Jahren nicht mehr gepflegt worden waren. Hinter dem Haus lag ein kleiner Obstgarten unter einer Öffnung in der Kuppel, welche die Grotte überwölbte. Der Drachensinn der Bestie erspürte den Inhalt der Hütte: eine Küche ohne Vorräte, aber mit getrockneten Kräutern und Gewürzen, ein Badezimmer mit einer Wanne, die ihr Wasser aus dem See bezog und es in die Gärten leitete, ein Wohnzimmer mit einem Kirschholzschrank, der mit Korkleisten eingefasst war und Musikinstrumente enthielt. Eines der Schlafgemächer hatte einen kleinen Erker und eine Sitzbank darin, das andere einen großen Schrank mit reichen Hofgewändern und Leinenkleidern sowie einer dazu passenden Auswahl an Schmuck.

Aha, meine Liebe, du bist also Musikantin? Und eine Sammlerin feiner Kleider, dachte die Drachin, doch dann erkannte sie einen weiteren Gegenstand in dem Schrank. Es war ein Kinderkleid, alt und reich bestickt mit allen Farben des Regenbogens. Ich kenne dieses Kleid, dachte die Drachin, doch der Ort, den es in ihrer Erinnerung einnahm, war ansonsten leer.

Die Freundlichkeit dieses Ortes durchwebte sogar die Luft; er war durchdrungen von einem unverkennbaren Glück, was die Drachin befremdend und erschreckend fand. Es war, als habe jemand das warme, dunkle Nest weggenommen, das in seiner Kahlheit so wundervoll gewesen war, und es mit frohen Farben und hübschen, aber schalen Blumen befleckt.

Dadurch hatte dieser Ort einen Glanz erhalten, der vorher nicht da gewesen war, und war zu einem Zufluchtsort, einem Heim, einem Heiligtum geworden. Doch da war noch eine tiefere Schicht, welche die Drachin spürte, aber nicht verstand. Liebe war etwas, das sie nicht kannte, auch nicht in menschlicher Gestalt, obwohl sie einmal Liebe gehabt hatte.

Als die Drachin mit der Begutachtung der Hütte fertig war, machte sie sich an die Untersuchung des Gartens. In der Mitte der lange verwelkten Blumenbeete nahe eines Rosenbogens, in dem das Unkraut wucherte, befand sich eine steinerne, sechseckige Terrasse mit zwei ineinander gewundenen Steinbänken.

In einer Ecke der Terrasse stand ein zerbrochener Vogelkäfig aus reinem Gold. Er war so stark beschädigt, dass man ihn nicht wiederherstellen konnte, und die Tür war fort.

Der Drachensinn der Bestie stürzte sich sofort auf diesen Käfig. In ihm erkannte sie nicht nur große Macht, sondern auch ihre eigenen Ängste – alte Ängste, vermischt mit Pein und Zorn.