Auf ihrem gewaltigen Gesicht prickelte es. Unbewusst hob sie eine Klaue und wollte sie sich an die Wange legen, um das Brennen der Erinnerung zu lindern.
Es war ein schmerzhafter Schlag gewesen.
Und er war hier, an diesem Ort geführt worden. Auf dieser Terrasse, nahe dem Vogelkäfig.
Warum?, kreischte die Bestie innerlich auf. Warum kann ich mich nicht daran erinnern?
Die Wut kehrte zurück und floss wie Säure durch ihre Adern. Während sie sich aufbaute, kämpfte die Bestie darum, die Magie in sich aufzunehmen und das wiederzubekommen, was man ihr gestohlen hatte, doch das Land wollte es nicht mehr hergeben.
Sie war nicht gewöhnt, dass man sich ihr verweigerte. Die Drachin wandte sich mittels ihres Blutes an den Ort, von dem sie wusste, dass er einmal ihr gehört hatte, doch nichts antwortete ihr – nicht die Hütte, nicht der See oder die kristallinen Formationen in den purpurnen Grotten darunter, nicht einmal die sechseckige Terrasse, auf der ihr nach ihrer bruchstückhaften Erinnerung ein so großes Unrecht widerfahren war, dass die ganze Welt darunter hatte leiden müssen.
Den Grund dafür kannte sie nicht; wenn sie ihn erfahren hätte, wäre sie noch wütender geworden. Es lag daran, dass der Mann, der die Krone der Firbolg ergriffen hatte und der rechtmäßige Herrscher über das Land der Zahnfelsen geworden war, diesen Ort in Wort und Tat der Frau geschenkt hatte, die sie als ihre Todfeindin ansah.
Aber eigentlich war es völlig gleichgültig.
Ätzender, zersetzender Hass stieg aus den Tiefen ihres seelenlosen Wesens auf und entzündete sich zu beißendem Feuer.
Zuerst war die Terrasse an der Reihe. Die Drachin schickte ihren feurigen Atem durch den Stein, bis der Vogelkäfig zu einer Pfütze aus goldener Schlacke geworden war. Dann richtete sie ihren Zorn auf den Rest des Ortes, setzte die Gärten und die Obstbäume in Brand, die rasch in einer hoch aufsteigenden Wolke aus schwarzem und orangefarbenem Rauch verschwanden, und wandte sich schließlich dem Haus zu. Aus seiner Zerstörung schöpfte sie grimmige Befriedigung; es war wie das Zerreißen alter Liebesbriefe aus einer verratenen Beziehung. Das strohgedeckte Dach fing rasch Feuer, dann fiel das liebevoll wieder hergerichtete Schlafgemach den Flammen zum Opfer, mitsamt den wertvollen Kleidern und sorgfältig verwahrten Musikinstrumenten. Ein Schwefelflammenstoß nach dem anderen zerstörte jede Spur der Frau, die sich hier eingenistet hatte. Als die gesamte Insel ein Flammenmeer war und Rauch und Asche in einer schwarzen Wolke über dem dunklen See lagen, betrachtete die Drachin ihr Werk.
Es ist ein Anfang, dachte sie und war noch unbefriedigt. Aber nur ein Anfang. Jetzt muss ich ihren Namen erfahren und herausfinden, wo sie sich befindet. Aber die Drachin wusste, dass dies nicht hier geschehen konnte. Sie spürte, dass die Frau, nach der sie suchte, kein Geschöpf der Erde, sondern der Luft und des Sternenlichtes war.
Daher musste sie in der Oberwelt nach ihr suchen.
Die Drachin versenkte sich in die Tiefen ihres Selbsts, in die elementare Erde; abermals wandte sie sich wie eine Wüste, welche das Wasser eines gewaltigen Unwetters aufgesogen hat und immer noch dürstet und tödlich trocken ist, von der brennenden Insel ab und schoss über den dunklen See bis zu der windumtosten Wiese, auf der ihr Name unablässig zwischen den Bergen hallte, und darüber hinaus an den Wächterfelsen des Kraldurge vorbei. Zum Reich der Firbolg.
36
»Was willst du damit sagen?«, fragte Ashe bebend. Die Vieltonigkeit seiner Drachenstimme war verschwunden und von einer menschlichen ersetzt worden, die nun von den Wänden des Höhleneingangs widerhallte.
Wortlos drehte sich die Hebamme um und stieg in die Höhle hinunter.
Benommen folgte Ashe ihr in den Bauch des Drachennestes.
Der Schein des Schatzes aus dem untergegangenen Meer war von der Farbe des Blutes durchtränkt. Er hörte seine Frau weinen; ihre Stimme zitterte, als versuche sie vergeblich, ihre Klage zu unterdrücken. Unter diesen Lauten lief er noch schneller; er drückte sich an Krinsel vorbei, rannte zum tiefsten Punkt der Höhle und rief dabei Rhapsodys Namen. Das, was er sah, ließ ihn erstarren.
Das große ätherische Wesen wiegte Rhapsody in seiner Armbeuge und strich ihr sanft mit der Klaue die schweißnassen Locken aus dem Gesicht. Dieses Gesicht war schmerzverzerrt und weiß vor Angst, aber das war noch nicht alles. Es war blass wie Milch, und die Lippen waren farblos.
Sie lag auf der Seite, die Augen waren geöffnet und glasig, und ein Bach aus Blut befleckte ihre Kleider, sammelte sich auf dem Boden vor ihr, wurde vor seinen Augen größer.
»Das Fruchtwasser fließt, aber das Kind kommt nicht«, sagte Elynsynos sanft. »Und es ist so winzig.« Er hörte ihre Stimme in seinem Kopf, wo ihre Laute unmittelbar entstanden; Elynsynos wollte Rhapsody nicht noch mehr verängstigen.
»Sam«, flüsterte Rhapsody. Ihre Stimme war trocken und schwach.
Er kniete sich vor sie, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und lächelte sie falsch an, um sie zu ermutigen. Dann warf er einen Blick auf die beiden Bolg. Krinsel sah nachdenklich und gelassen aus, genau wie Achmed, doch die sonst so dunkle Haut des Bolg-Königs glänzte im gebrochenen Licht der Hohle vor Schweiß.
»Es ist zu schnell«, sagte Rhapsody leise. »Nicht einmal drei Jahreszeiten ...«
»Das wissen wir nicht«, meinte Ashe beruhigend.
»Deine Mutter ... hat dich ... drei Jahre lang getragen ...«
»Wer weiß das schon?« Der cymrische Herrscher blickte in die prismatischen Augen der Drachin, die vor unvergossenen Tränen funkelten. »Wie lange war es bei dir, Elynsynos? Wie lange hast du meine Großmutter und ihre Schwestern ausgetragen?«
Die Drachin schüttelte das gewaltige Haupt. »Länger als ein ganzes Jahr«, sagte sie.
Verzweifelt dachte Ashe an die Worte der Seherin. Rhapsody wird nicht sterben, wenn sie deine Kinder zur Welt bringt, hatte Manwyn selbstgefällig gesagt. Darüber hatte er unablässig nachgegrübelt und überlegt, wie die Worte ausgelegt werden könnten, denn das Orakel war oft zweideutig. Doch er war zu dem Schluss gekommen, dass diese Aussage keine andere Deutung zuließ.
Dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht hatte die Seherin einen grausamen Doppelsinn in ihre Bemerkung gelegt, welche zwar an sich richtig war, aber eine verborgene, entgegengesetzte Bedeutung hatte. Vielleicht sollte es genau so zu Ende gehen: Das Kind starb in ihr, bevor es geboren wurde.
In seinem Kopf hallte die Stimme seines Vaters wider.
Nimm dich vor Prophezeiungen in Acht, hatte Llauron gesagt. Sie sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen. Die Gabe, in die Zukunft zu sehen, ist oft den Preis der Irreführung nicht wert. Stumm verfluchte Ashe sich selbst, denn er musste zugeben, dass sein Vater möglicherweise Recht hatte.
»Hilf mir«, sagte er zu Achmed, während er seinen Mantel auszog und ihn Rhapsody umlegte. »Du bist doch das Kind des Blutes, oder? Kannst du nicht wenigstens dafür sorgen, dass sie zu bluten aufhört?«
Achmed schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie«, sagte er mürrisch. »Ich habe meine Blutgabe nicht als Heiler, sondern als Mörder eingesetzt.«
Im dunklen Licht der Höhle neigte die Bestie den Kopf und brachte damit jedes zufällige Geräusch zum Schweigen. »Wenn du eine Elementargabe hast, kannst du sie in beide Richtungen einsetzen«, sagte die harmonische Stimme. »Blut ist ein Element, wenn auch kein uranfängliches. Wenn du weißt, wie du Blut vergießen kannst, solltest du auch in der Lage sein, es zu retten.«
Achmed stand reglos da, doch sein schweißfeuchtes Gesicht wurde noch aschfahler. »Ich kann es nicht«, wiederholte er.
Die schillernden Augen der Drachin verengten sich in unmissverständlichem Ernst, und die künstliche Stimme, mit der sie ihre Worte formte, indem sie der Luft befahl, war sanft und leise vor tiefer Bedeutung.