»Hör mir gut zu, Bolg-König«, sagte Elynsynos. »Schließ die Augen und höre auf kein anderes Geräusch als auf meine Worte; dann werde ich dir sagen, wie du deine Gabe einsetzen kannst, um Blut aus tödlichen Wunden zu stillen, anstatt es zu vergießen.«
Einen Augenblick lang stand Achmed steif vor Unentschlossenheit in der Stille der Höhle, während Rhapsdys Lebensblut sich zu seinen Füßen sammelte. Dann kniete er sich widerstrebend neben sie.
»Sag es mir«, meinte er knapp.
»Alles im Universum ist entweder Leben oder Leere, Bolg-König. Nicht Gut und Böse, wie die Menschen glauben, sondern diese beiden entgegengesetzten Kräfte sind es, die für immer im Kampf liegen. Entweder ist etwas schöpferisch, oder es ist zerstörerisch. Und in jedem Leben gibt es sowohl Schöpfung als auch Zerstörung.« Die Worte der Drachin wurden wärmer, als ob die Hitze der Feuergabe, an die sie gefesselt war, sowie aller anderen Elemente in ihrer Stimme steige. »Jene, die mit der Gabe des Lisleut, der Farbe Rot, geboren sind, haben ein unauflösbares Band zum Blut, dem Strom des Lebens, der durch alle Geschöpfe fließt. Wenn sie dieses Band im Namen der Macht der Leere knüpfen und morden und vernichten, dann sind sie entweder Blutvergießer, geborene Mörder und Schlächter, oder solche, die den Tod mit großer Ehrerbietung bringen, wenn es nötig ist.
Doch wenn diese Blutgabe im Namen der Schöpfung – und mit Liebe – angewendet wird, ist sie eine heilende Macht. Du und meine Schöne habt in vieler Hinsicht dieselbe Verbindung zum Blut, aber du hast deine Gabe dazu eingesetzt, es zu vergießen, oft in guter Absicht, während sie es zu bewahren versucht. Als Benennerin kann sie heilen, aber weder sie noch ich haben die Gabe des Lisleut. Drachen sind nur mit den uranfänglichen fünf Elementen verbunden. Du allein bist mit dem natürlichen Band des Blutes gesegnet – oder verflucht. Du benötigst kein Geschick, um sie zu retten, Bolg-König, sondern nur einen Grund. Wenn du etwas um sie gibst, setze dein Band des Blutes zum Heilen statt zum Töten ein. Das Blut wird dir gehorchen, so wie es in der Vergangenheit schon zahllose Male geschehen ist. Wenn dein Vorsatz auf Heilung und Rettung gerichtet ist, dann wird genau das einsetzen.«
»Unsere Beziehung ist nicht mehr besonders gut«, murmelte Achmed.
»Euer Streit und der Zustand eurer Freundschaft sind nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass du ihr helfen willst. Wenn du es willst, dann kümmere dich um die Blutung. Wenn du es nicht willst, solltest du jetzt gehen.« Eine Wolke aus beißendem Dampf quoll aus den Nüstern der Bestie; in ihrem Geruch lag eine deutliche Spur von Drohung.
Achmed starrte den wachsenden roten Fleck auf Rhapsodys Kleidern an, zog sich dann mit steifen Bewegungen den Handschuh aus und legte die Hand neben die von Ashe auf Rhapsodys Bauch.
Seine Gedanken wanderten ungebeten zurück zu den Turmkammern des Klosters, in dem er ausgebildet worden war. Achmed schüttelte scharf und heftig den Kopf, als wolle er die Erinnerung verscheuchen.
Eine Schande, dass Ihr das Studium der Heilkunst gegen eine andere Betätigung eingetauscht habt, hatte Jal’asee gesagt. Euer Lehrer hatte großes Vertrauen in Eure Fähigkeiten. Ihr wäret eine Zierde für die Stille Festung gewesen, vielleicht einer ihrer besten Schüler.
Bei der Erinnerung an seine Antwort drang ihm ein schmerzender Stachel in die Ohren.
Dann wäre ich jetzt genauso tot wie all die anderen Unschuldigen, die Ihr an diesen Ort gelockt habt. Euer Verständnis von Schande deckt sich nicht mit meinem.
Wärme durchströmte ihn, sofort gefolgt von der schneidenden Kälte und dem Schmerz der Erinnerung, als er an einen dieser Unschuldigen dachte.
Unter der durchweichten Kleidung bewegte sich Rhapsodys Bauch unruhig; er dehnte sich und zog sich sofort wieder zusammen.
Achmed prallte zurück und zog den Arm ruckartig fort.
Das Kind in ihr trat mit nutzloser Anstrengung aus.
Rhapsody jammerte auf; ihre Lider flatterten.
»Ich ... das ist nicht das erste Mal, dass ich meine Gabe auf diese Weise anzuwenden versuche«, sagte der Bolg-König zögernd. »Beim letzten Mal war das Ergebnis nicht besonders gut.«
Elynsynos sah ihn an; die vielfarbigen Pupillen glänzten im schwachen Licht der Höhle.
»Diesmal hast du einen Ansporn, Bolg-König«, sagte die Drachin. »Diesmal versuchst du die Blutung von einer der wenigen Personen zu stillen, die dir etwas bedeuten.«
Achmed schnaubte, doch die Ironie dieser Worte war so stark, dass er beinahe etwas dazu gesagt hätte. Jetzt weiß ich, woher Ashe einige seiner ärgerlichsten Wesenszüge hat, dachte er, als er die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellbogen hochrollte und seine von Oberflächenadern überzogenen Arme freilegte. Drachen! Sie reden, als wären sie im alleinigen Besitz aller Weisheit der Welt, während sie in Wahrheit gar nichts wissen. Wenn man es recht bedenkt, müssen auch Priester und Gelehrte teilweise Drachen sein.
Seine Wut klang ab, als er Rhapsody wieder berührte. Die Wärme in ihrem Körper nahm rasch ab, verebbte mit jedem Herzschlag, als ob sie ihre Lebenskraft aushauchte. Schuld – ein Gefühl, das er für gewöhnlich nicht verspürte – krallte sich in seine Gedanken und wand sich bis hinunter in die Eingeweide. Es war kaum zu glauben, dass ihr Streit es hervorgerufen hatte – oder doch?
»In Ordnung, Rhapsody, es reicht«, murmelte er. »Als du beim letzten Mal Heilung brauchtest, habe ich dir ein Lied gesungen, aber du kannst mir glauben, dass niemand diese Erfahrung wiederholen möchte.«
Rhapsody nickte schwach.
»Niemand«, stimmte sie leise zu.
Achmed musste grinsen. Irgendwo in dieser drachenhaften Frau steckte noch eine Spur der alten Freundschaft. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Schlag ihres Herzens. Es war einer der wenigen Laute, die er noch aus der alten Welt hörte, doch er kam nur ganz schwach aus ihrer Brust. Achmeds Hand zitterte leicht. Im Gegensatz zum letzten
Mal gab es nun keine Wunde; das Blut kam aus ihrem Inneren.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte er angespannt. »Es gibt keine äußerliche Wunde.«
»Finde den Weg«, sagte die Drachin. »Blut fließt durch den Körper wie Wasser durch die Erde.«
Die luftgleichen Worte drangen bis in die hintersten Winkel von Achmeds Verstand und zerrten Erinnerungen hervor, die er dort versteckt hatte. Vor einem halben Leben war er in die Wurzel der Sagia hinuntergeklettert gemeinsam mit Grunthor, der einzigen Person, der er vertraute, und einer wild um sich schlagenden Geisel, die seine Fluchtpläne und seine ganze Welt durcheinander gebracht hatte. Zu Anfang war sie eine unwillkommene Begleiterin gewesen, doch während der zahllosen Jahrhunderte, die sie gemeinsam gereist waren, war sie zu der einzigen anderen lebenden Person geworden, die seines Vertrauens würdig war. Zu dritt waren sie durch den Bauch der Erde gekrochen und hatten grauenvolle Dinge beobachtet, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte; während sie in ihrer merkwürdigen Dreiergruppe zusammengeblieben waren, hatten sie Hindernisse bezwungen, die unüberwindbar erschienen waren, wobei die Zeit in der Welt über ihnen verflog.
Die Frau, die er bei ihrer Flucht als Versicherung gegen seinen F’dor-Herrn mitgeschleift hatte, hatte sich ihnen widersetzt und sie geärgert, doch der Hass war zu Gleichgültigkeit und schließlich zu Freundschaft geworden, und sie hatte für ihn und Grunthor gesungen und mit ihnen die Vision der Oberwelt, die grünen Felder und Ebenen unter dem offenen Himmel geteilt. Meistens hatte das den Wahnsinn gebannt. Und während Grunthor ihr das Führen des Schwertes beigebracht hatte, hatte sie ihn das Lesen gelehrt; doch ihr größtes Geschenk war vermutlich die Reinigung ihrer Namen gewesen.
Im Mittelpunkt der Erde brannte ein infernalisches und undurchdringliches elementares Feuer. Während er und Grunthor der Meinung gewesen waren, dies sei das Ende ihrer Reise und sie seien nun für immer in diesem Grab aus feuchten Schächten und haarartigen Wurzeln gefangen, hatte ihre Gefährtin sie durch das Feuer gesungen, sie in die Lieder ihres Namens gehüllt – oder in das, was sie für ihre Namen hielt – und ihnen Gaben verliehen, die sie verloren oder nie besessen hatten. Während ihr Lied Grunthor wunderbarerweise unauflöslich an die Erde band, deren Rhythmus nun mit seinem Herzschlag in Einklang war, hatte sie Achmed durch die Kraft des Namens, den sie ihm in ihrem Lied gegeben hatte, die Verbindung zum Blut und noch vieles mehr geschenkt. Achmed die Schlange, hatte sie ihn genannt und den Namen ausgelöscht, mit dem er jahrhundertelang gerufen worden war: der Bruder. Dadurch hatte sie ihn von den Fesseln gelöst, die mit diesem Namen verbunden waren. Firbolg, Dhrakier. Erstgeborener. Mörder. Diese Benennungen waren wahr gewesen, bevor sie in die Erde gegangen waren, doch sie hatte noch andere hinzugefügt.