Unfehlbarer Fährtenleser, Pfadfinder.
Mit diesen Namen war die Macht gekommen.
Von dem Augenblick an, als das Namenslied ihre Lippen verlassen hatte, hatte er sich nie wieder verirrt. Wenn er sich auf einen Pfad konzentrierte, den er nie zuvor gesehen hatte, sah er ihn mit dem inneren Auge aus einem neuen Blickwinkel von oberhalb seiner selbst. Ein innerer Sinn, den er früher nicht gekannt hatte, leitete ihn und zeigte ihm den Weg, den er gehen wollte. Dieser Sinn hatte die drei Gefährten entlang der Axis Mundi durch die zahllosen Tunnel, Wurzeln, Löcher und Durchgänge im Fleisch der Welt geführt und in dieses neue Land gebracht, zu diesem Kontinent auf der anderen Seite der Welt und der Zeit. Seither hatte ihm der neue Sinn gute Dienste geleistet.
Die Frau, die ihm diesen Sinn geschenkt hatte, lag nun vor ihm und vergoss mit jedem Herzschlag ihr Blut auf den Boden.
Achmed tauchte den Finger in die Blutpfütze auf dem Höhlengrund.
Er schloss die Augen und suchte den Pfad, wobei er in seinem Kopf wieder ihre Worte hörte.
Unfehlbarer Fährtenleser. Pfadfinder.
Das Blut an seiner Fingerspitze summte in den empfindlichen Nervenenden.
Ein Bild von Tunneln, nun eher Adern und Venenwege als Schächte entlang einer Wurzel, kam ihm in den Sinn. Einen von ihnen durchfloss ein Strom aus dunklem Blut, das heller wurde, je näher er dem Herzen kam. Achmed atmete langsam aus und setzte die Gabe des Findens ein, die ihm Rhapsodys Namenslied im Innern der Erde geschenkt hatte. Seine Gedanken klarten auf. Die Drachin, die Drachenbrut, die Hebamme und die schöne Frau verschwammen im Nebel am Rande seines Bewusstseins und verschwanden schließlich ganz. Nur die Wege im Innern der Frau, die zur anderen Seite seiner Gabe geworden war, blieben in ihm übrig.
Starke Übelkeit packte ihn, die Kälte des Krankenlagers wehte ihn an. Er bekämpfte das Gefühl und konzentrierte sich.
Mit seinem geistigen Auge folgte er dem tröpfelnden Blut durch dunkle Tunnel und Höhlungen, in denen er sich ducken musste. Er fand seinen Weg, als folge er dem Geruch eines Tieres oder dem Herzschlag menschlicher Beute; er war es gewöhnt, diese Laute zu hören, denn er war mit der Gabe geboren worden, all jene durch ihren Herzschlag aufzuspüren, die am gleichen Ort wie er geboren waren. Er spürte sie auf seiner Haut und vermochte seinen eigenen Lebensrhythmus dem ihren anzupassen.
Doch nichts, was er je getan hatte, hatte ihn auf den Anblick des Innern einer anderen Person vorbereitet, zumal es sich um jemanden handelte, dem gegenüber er das verdammenswerte, verwirrende Gefühl einer Liebe empfand, die verboten und unerwidert war.
Den Weg über den inneren Pfad ging er mit Lichtgeschwindigkeit; innerhalb eines Herzschlages sah er Rhapsodys Bauch, aus dem das Blut durch einen Riss strömte. Er richtete seine ganze Willenskraft darauf, die Wunde zu schließen, und zu seiner Überraschung sah er das schwammartige Gewebe kurz anschwellen und dann wieder in sich zurücksacken. Es war rot und fest. Die Wunde war verschwunden. Die Adern seiner eigenen Haut pulsierten, so wie sie es taten, wenn er einem Opfer nachspürte und sich erfolgreich mit dessen Herzschlag verbunden hatte.
Achmed zitterte. Er schloss die Augen und bereitete sich darauf vor, den Pfad zu verlassen, doch er zögerte kurz – lange genug, um zu erkennen, was in der Nähe der geheilten Wunde schwamm.
Umgeben von einer durchsichtigen, in der Mitte aufgerissenen Membran befand sich eine beinahe menschliche Gestalt mit Augen, die wie im Schlaf geschlossen waren. Das Gesicht wurde von dem Gewebe verdeckt. Die Membran glimmerte im Dunkel, als ob sie einmal ein mit Licht gefüllter Sack gewesen wäre, und Streifen aus jeder erdenklichen Farbe durchliefen sie.
Das Kind darin war reglos; die einzige Bewegung bestand in einem schwachen Flackern unter den Rippen. Mit seinem geistigen Auge starrte Achmed Rhapsodys Kind an und war gefesselt von der schieren Schönheit dessen, was er sah. Im Gegensatz zu der verhassten Drachenbrut, die ihm Übelkeit verursachte, wenn er nur an sie dachte, war dieses Kind zart, vollkommen und in Licht und Dunkelheit zugleich gehüllt. Sogar durch die klebrige Hülle waren Strähnen goldenen Haars zu erkennen, und eine unwiderstehliche Wärme ging von dem Wesen aus. Es war dieselbe Wärme, die Rhapsody ausgestrahlt hatte, bevor sie vor einigen Monaten diese feuchte Höhle betreten hatte.
Als er den Pfad gefunden hatte, verblasste die Vision wieder und wurde zu Finsternis. Achmed wurde gleichzeitig von zwei Gedanken heimgesucht.
Das Kind war nicht die Missgeburt, vor der er sich gefürchtet hatte. Es ehrte seine Mutter, hatte jedoch auch eigenes Licht, und statt der alten Habgier und verzerrten Eigenschaften eines Drachen zeigten sich Menschlichkeit und Verletzlichkeit.
Aber es lag im Sterben.
Achmed zog seine Hand aus der Blutpfütze, als die Vision verschwand. Ihm wurde kalt, und er erbebte.
»Die Blutung ist gestillt«, sagte er mit schweißgrauem Gesicht. »Aber das Kind muss sofort geholt werden.«
Weit entfernt, in den Tiefen seines Königreichs, schlug unbemerkt vom Bolg-König das Herz eines anderen Schlafenden Kindes ebenfalls schwächer.
37
Wie es der Zufall wollte, wechselte die Wache auf der Verdorrten Heide unmittelbar westlich von Kraldurge genau in dem Augenblick, als sich die Bestie durch das ausgetrocknete Flussbett bohrte, das seit Jahrhunderten als Schutzwall gegen menschliche Angriffe gedient hatte. Daraus ergab sich, dass doppelt so viele Soldaten wie gewöhnlich bei der Ankunft der Drachin zugegen waren und kurz darauf doppelt so viele Pfeile aus den Armbrüsten auf sie abgeschossen wurden, die mit einem dumpfen Kriegsgetrommel durch die Luft zischten, was viele Männer aufrüttelte, die ansonsten überrascht worden wären.
Das bedeutete aber auch, dass in dem folgenden Augenblick doppelt so viele Männer starben.
Es begann mit einem Rumpeln im Boden. Geröll und Erdreich lösten sich aus den Zahnfelsen und regneten mit der Gewalt eines mächtigen Hagelsturms in die Spalten im Osten sowie auf die Steppe im Westen. Die Klane des Auges, die über diese Spalten wachten, flohen von den Gipfeln und versuchten auf dem felsigen Terrain Halt zu finden, doch viele gerieten in Erdrutsche und stürzten zusammen mit dem Gestein tausend oder mehr Fuß tief in die Schluchten.
Die Klane der Klaue bewachten die inneren und äußeren Pässe des Kessels, der ebenfalls nicht weit entfernt von Kraldurge war. Ihre harte Ausbildung hatte sie Wachsamkeit in alle Richtungen gelehrt – in die vier Himmelsrichtungen sowie nach oben in die Luft –, da ein Angriff von überall her erfolgen konnte. Obwohl sie auch gelernt hatten, dass die Erde selbst ein Einfallstor sein konnte, war es für sie kaum vorstellbar, den Boden unter ihren Füßen als mögliche Gefahr anzusehen. Als daher plötzlich der Boden erzitterte, sich spaltete wie das Maul einer großen steinernen Bestie und Feuer spie, blieb den Soldaten der Klaue nicht mehr übrig, als sich herumzuwerfen und zu fliehen. Sie versuchten ihre Köpfe vor den herabregnenden Erdmassen zu schützen, doch sie wurden lebendig begraben.