Der Klan der Eingeweide, die das erbliche Recht zur Bewachung der Ländereien hinter der Schlucht besaßen, mussten schutzlos mit ansehen, wie ein großes, schattenhaftes Ungetüm aus dem Boden stieg und das Licht der unzähligen Feuer, die sich auf der ganzen Verdorrten Heide in den kahlen Bäumen und im Wintergras entzündeten, wie irrsinnig über seine Schuppen tanzte. Es war diese Soldatengruppe, auf welche die Drachin ihre Aufmerksamkeit zuerst richtete.
All ihre aufgestaute Wut, ihre unerfüllten Rachegelüste, die sie während der Monate ihrer Reise genährt hatte, sowie das unablässige Hören ihres Namens, der in unmissverständlichem Abscheu verflucht wurde, all der Verrat, der Verlust des Landes, von dem sie wusste, dass es ihr gehörte, all die Verwirrung und Angst über die Unfähigkeit, sich deutlich an die Vergangenheit erinnern zu können, und vor allem die bitteren Vorwürfe, die sie jener Frau machte, deren Gesicht sie in jedem Augenblick des Wachens und des Traums heimsuchte, brachen sich Bahn in ihrem ersten Angriff. Die Bestie stieß das Feuer aus, das in ihrem Bauch gebrodelt hatte, sog die Luft ein und blies sie jedem Lebewesen entgegen, das sie auf ihrem alten Land sah oder spürte. Sie raste vor Vergnügen, als ihr Drachensinn fühlte, wie sie bei lebendigem Leib geröstet wurden.
Ein weiterer Pfeilschwarm aus Bogen und Armbrüsten flog auf sie zu und prallte nutzlos an ihrem Panzer ab. Die Drachin spürte kaum mehr als ein Prickeln. Es gefiel ihr sogar so sehr, dass sie lachen musste. Es war ein schrecklicher, kehliger Laut, der aus der Luft selbst gebildet war und hart von den Wänden der Schlucht widerhallte.
Dann duckte sie sich und glitt über den Boden, zog die Kraft aus ihm und fraß die Macht des Bolg-Landes auf, während sie die unglücklichen Soldaten verschluckte, die auf ihrer Seite der Schlucht gefangen waren. Mit jedem Augenblick wurde sie unverwundbarer, während sie die Erde ihrer Kraft beraubte.
Dazu war sie in der Lage, weil der König, der diese Macht für sich beanspruchte, nicht da war, um sie zu verteidigen.
Sie bahnte sich einen Weg auf den nächsten Gipfel, schmeckte den Wind und suchte nach einem Anzeichen für die Frau.
Grunthor wusste innerhalb von wenigen Sekunden, dass eine Drachin gekommen war, obwohl ihm nicht klar war, woher sie kam und wer sie war.
Er warf den Kopf zurück und stieß einen lauten Ruf aus. Dieser Kriegsschrei, der für seine erschreckenden Auswirkungen auf Mensch und Tier gleichermaßen bekannt war, rüttelte die Archonten und Stammesführer auf, mit denen er sich gerade traf.
»Hrekin«, rief er, drückte den schweren Eichenstuhl von dem Besprechungstisch zurück und sprang auf die Beine. »Hoch mit euch! Wir werden angegriffen!«
Sofort machte sich die Elite der Archonten bereit zum Empfang der Befehle, die nun unweigerlich folgen würden.
»Ralbux, lauf mit Harran durch die Tunnel zum Grivven«, befahl Grunthor. »Es ist eine Drachin, das spür ich. ’s ist nirgendwo sicher, also haltet euch flach über dem Boden und bleibt in der Nähe von Felsen.« Der Erziehungsarchont und die Meisterin der Überlieferungen nickten und liefen zur Tür des Raumes; beide begriffen die Notwendigkeit, um jeden Preis Ausbildung und Wissen am Leben zu erhalten. Ohne die Geschichte, die Harran studiert hatte, würden die Bolg zu ihrem halb-menschlichen Zustand zurückkehren, in dem sie sich befunden hatten, bevor Achmed – oder genauer Rhapsody – nach Ylorc gekommen war.
Harran blieb auf der Schwelle stehen.
»Vortrag«, kündigte sie an. Grunthor stellte die Ohren auf. »Drachen sind äußerst empfindlich; diese Eigenschaft wird gemeinhin als Drachensinn bezeichnet. Innerhalb eines Radius von schätzungsweise einer und einer halben Meile, fünf Meilen über der Erde und etwa doppelt so viel unter ihr sind ihre Sinne bis fünfhundertmal stärker als die der Bolg. Geschmackssinn, Tastsinn, Hören, Riechen und Sehen sowie der innere Sinn der Wachsamkeit sind in gleicher Weise geschärft. Die Feuersteine im Bauch eines jeden Drachen, dessen Schuppen rot oder kupferfarben sind, enthalten eine Chemikalie, die als Rotes Feuer bekannt ist. Es brennt anderthalbmal so heiß wie normales Feuer. Da es sich dabei um eine Säure handelt, ist es auch zersetzend. Die verletzlichsten Körperpartien sind die Augen, der Teil hinter den Ohrlöchern, falls solche vorhanden sind, und die Bereiche unter den Flügeln, falls der Drache welche hat.«
»Geht!«, rief der Sergeant ungeduldig. Harran und Ralbux verschwanden hinter der Tür. Grunthor stieß wütend die Luft aus. Er hatte genug Erfahrung mit Drachen, um zu wissen, wie unverwundbar sie waren.
Nur wenig später hörte man donnernde Stiefel rasch den inneren Korridor entlangkommen. Die »Augen«, die auf dem Ausguck überlebt hatten, eilten durch die unterirdischen Tunnel des Kessels, um ihren Bericht abzugeben. Während Grunthor auf ihre Erkenntnisse wartete, wandte er sich an seinen Adjutanten.
»Ruf zum Appell«, befahl er. »Hol mir jeden verdammten Kommandanten in Rufweite her. Alles, was ich jetzt habe, sind die Stammesführer.« Der Adjutant floh in den Korridor. Grunthor drehte sich zu den Archonten um und deutete auf die Risszeichnungen Ylorcs, die in jedem Besprechungszimmer an der Wand hingen.
Die Spione der »Augen«, deren normalerweise dunkle und struppige Gesichter mit Asche gesprenkelt waren, betraten den Raum. Es waren nur drei.
»Berichtet«, befahl Grunthor. Seine Haut, die für gewöhnlich die Farbe alter Prellungen hatte, war zu einem wütenden Lederbraun geworden, und seine bernsteinfarbenen Augen blitzten beinahe golden.
»Drache; aus dem Boden oberhalb von Kraldurge«, sagte der erste der Augen in der Sprache seines Stammes. Grunthor schlug zornig auf den Tisch, und der zitternde Mann wechselte rasch in den gemeinsamen Dialekt. »Kupferfarbene Haut. Bleibt am Boden, steigt nicht in die Luft wie beim Konzil. Selbe Farbe.«
Das zweite Auge nickte. »Zerrissener Flügel«, sagte er schnell. »Kann möglicherweise nicht fliegen. Hockt jetzt auf dem Gipfel des Trexlev, greift nicht an. Scheint zu wachen oder zu lauschen.«
»Verdorrte Heide brennt«, berichtete das letzte Auge; es war eine Frau. »Buschfeuer im Wintergras; der gefrorene Boden wird die Ausbreitung bei der Frostlinie verhindern.«
Grunthor nickte. »Zurück auf eure Posten«, sagte er und wandte sich an die Archonten. »Einschätzung?«
»Herkömmliche Waffen werden nutzlos sein«, sagte Yen, der Schmied. »Man kann gegen einen Drachen nicht einmal die Hitze der Schmieden einsetzen; Feuer verletzt sie nicht. Man braucht besondere Pfeile und besondere Klingen, um Drachenhaut zu durchdringen. Wir haben keine.«
»Berichtigung«, knurrte Grunthor. »Wir haben eine, aber wie üblich ist sie nicht hier. Weiter?«
»Brustwehre, Schanzen, Bewässerungskanäle und Abwasserleitungen sind verwundbare Stellen«, sagte Dreekak, der Meister der Tunnel, in großem Ernst. »Die Bestie kann sie genauso benutzen wie wir, kann überall hinreisen, wohin sie führen. In diesem Fall arbeiten unsere eigenen Verteidigungsanlagen gegen uns.«
»Gutes Argument«, sagte Grunthor mit widerstrebender Bewunderung. »Noch was?«
»Viele Katapulte einsatzbereit«, schlug Vrith vor. »Werden in Friedenszeiten benutzt, um Heu und Säcke mit Pflanzgut zu den Siedlungen tief in der Verdorrten Heide zu schicken. Wenn schon keine Waffen, dann können vielleicht Felsbrocken die Bestie verletzen?«
Greel, der Minenarchont, das »Gesicht des Berges«, sagte rasch: »Viel Schutt vor dem Gurgus von der Wiedererrichtung des Turms. Voller Glassplitter, sehr scharf. Könnte sogar einem Drachen etwas antun.«
Grunthor presste die geschwollenen Lippen nachdenklich zusammen. »Hmmm«, meinte er.
»Noch ein Gedanke«, fügte Trug hinzu. »Wenn wir etwas über diesen Drachen wüssten, könnten wir den Angriff besser planen.«
Omet, der einzige nicht-bolgische Archont, stand plötzlich auf. Er sagte nichts. Sein Aufspringen war eher Ausdruck plötzlichen Verstehens als Wortmeldung. Der Sergeant erkannte dies und hob die Hand, um alle anderen Bemerkungen zu unterdrücken.