»Wart ihr alle hier, als vor drei Jahren das Konzil von der Drachin Anwyn angegriffen wurde?«, fragte er und versuchte sich an diese Ereignisse zu erinnern, die er nur vom Hörensagen kannte.
»Ja«, sagte Grunthor gereizt.
Omet redete nun noch langsamer und überlegter. »War nicht auch der Flügel dieser Drachin verletzt? Hatte nicht Rhapsody ihr die Klinge hineingestoßen, als die Bestie sie in die Luft gehoben hat?«
Alle Geräusche flohen aus dem Raum. Als die Archonten Grunthors Gesichtsausdruck sahen, hielten sie die Luft an.
»Ja«, sagte Grunthor noch einmal mit tödlicher Trockenheit in der Stimme. »Aber dieses Biest ist tot. Hab sie aus dem Himmel fallen sehn und ihr Grab eigenhändig zugeschaufelt. Sie ist tot.«
Dreekak hustete nervös. »Letzten Sommer hat eine Patrouille über einige Erschütterungen im Gerichtshof berichtet«, sagte er leise. »Hatte geglaubt, es seien Nach wellen der Explosion des Gurgus’.« Seine letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Habe Euch den Bericht geschickt, Herr.«
Grunthors Gesicht nahm eine noch tiefere Purpurfärbung an. Er warf den Kopf zurück und brüllte erneut. Sein Ruf hallte durch die Korridore des Kessels bis zur Schluchtöffnung und drang gleichzeitig tief in die Erde. Die Archonten warteten darauf, dass die Reihe von scheußlichen Flüchen – einige auf Bolgisch, andere auf Bengard, Grunthors Muttersprache – endete, bevor sie endlich auszuatmen wagten.
»Hrekin«, murmelte der Sergeant schließlich. »Drachen! Man wird sie einfach nicht los. Glaube, diesen hier müssen wir noch mal umbringen. Na klasse!«
Die Tür wurde geöffnet, und acht Militärkommandanten strömten in den Raum. Der Sergeant besprach sich mit ihnen über Truppenpositionen und Verluste, während sich die Archonten leise miteinander unterhielten. Als er sich schließlich wieder an sie wandte, standen sie mit erleuchteten Gesichtern vor ihm.
Grunthor beäugte sie misstrauisch.
»In Ordnung. Was denkt ihr?«, wollte er wissen.
Die Drachin war so vertieft in die Suche nach einem Namen und nach der Frau aus der Grotte, dass sie den Bewegungen der Bolg keine große Aufmerksamkeit schenkte. Sie nahm diese natürlich in allen Einzelheiten wahr: die Ereignisse im inneren Bereich des Kessels, alles andere innerhalb von fünf Meilen. Doch ihr gebrochener, begrenzter und besessener Geist sah nichts als die kläglichen Krabbeleien von Insekten. Mit einem einzigen Atemzug hatte sie hunderte von ihnen vernichtet, und sie würde noch mehr vernichten, bevor sie fertig war, doch ihre Verteidigungsversuche waren es nicht wert, sich von der Suche nach der Frau ablenken zu lassen.
Sie bemerkte, wie die Toten abgeholt wurden und die Alten und Jungen in tiefere Bunker unter der Erde gingen, was sie belustigte. Sie spürte nicht die Gegenwart vieler Waffen. Die Bogen und Armbrüste hatten sich als nutzlos gegen sie erwiesen, was ihr Gefühl der Unverwundbarkeit noch weiter gestärkt hatte.
Wenn sie ihre Umgebung besser erkannt hätte, wären ihr die Überreste einer alten Maschine aufgefallen, die sie in einem anderen Leben beinahe genauso verabscheut hatte, wie sie die goldhaarige Frau in diesem Leben verabscheute. Als sie noch menschliche Gestalt besessen hatte und Herrscherin einer großen Nation sowie Anführerin eines gewaltigen Heeres gewesen war, hatte ihr erster Befehl im Krieg gelautet, diesen Apparat zu zerstören. Es hatte beinahe fünfhundert Jahre gedauert, bis ihre Soldaten dieses Ziel erreicht hatten. Doch diese Erinnerung war zusammen mit den meisten anderen, die sie in ihrem langen Leben angesammelt hatte, in den Tiefen der Vergangenheit vergraben, wo sie sie nicht finden konnte.
Wo ist siel, fragte die Drachin die flüchtigen Winde. Wo ist die Frau, die ich suche? Und ihr Name! Ich will ihren Namen wissen!
Der Wind heulte um den Berg und sagte nichts.
Nur wenige Worte waren nahe genug beim Gipfel gesprochen worden, um hier zu verweilen, doch inzwischen waren auch diese in die weite Welt hinausgeweht.
Ihre Wut kehrte zurück. Die Bestie schickte Feuer vom Berggipfel herunter, doch kein Bolg war mehr zu sehen, daher musste sie sich mit der Zerstörung einiger Außenposten und Wachttürme zufrieden geben. Sie empfand nur wenig Befriedigung darin, diese brennen zu sehen.
Vielleicht kann ich nur nicht hören, weil ich hungrig bin, dachte sie und erinnerte sich mit Vergnügen an das Fest im Hintervold – nicht nur an die große Fleischmenge, sondern auch an die Freude über die Zerstörung und das orgiastische Gefühl angesichts der Angst und Hilflosigkeit in den Gesichtern der Jäger. Die wenigen Menschen auf der Heide waren nur Appetitanreger. Das können wir ändern.
Ihr Drachensinn sagte ihr, dass die Mehrheit der Bevölkerung westlich der Schlucht in Bunkern tief in den Bergen kauerte, doch eine genügend große Menge war zurückgeblieben und konnte ein schönes Mahl abgeben. Sie glitt den Hang hinunter und auf den Tunnel zu, der in den Kessel führte.
Der erste Korridor, zu dem sie kam, war sehr eng. Es handelte sich um einen Luftschacht, durch den die Hitze aus den Schmieden in die Tunnel geleitet wurde, die sie im Winter wärmten, während im Sommer die kühle Luft der Berge hindurchströmte. Sie überlegte, ob sie sich hindurchzwängen sollte, bemerkte bald aber einen anderen, breiteren Tunnel, der zu einem zentralen Röhrensystem führte, in dem sie alles jagen konnte, was sie haben wollte.
Ein Teil der verbliebenen Beute befand sich am Ende der Röhren.
Sie kroch auf den Eingang zu und glitt in den Tunnel. Ihre Augen erstrahlten in blauem Feuer.
Grunthor spürte die Veränderung in der Erde, sobald die Drachin den Tunnel betreten hatte und die Kraft aus dem Boden saugte.
»Verdammte Harpye«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Dachte, ich hätte dich vor drei Jahrn endgültig begraben. Na, dann komm mal her, Kleines. Ich bring dich so oft um wie nötig.«
Er wartete, bis sie die erste Biegung erreicht hatte, bevor er sich an Kubila wandte, der neben ihm auf Befehle wartete.
»Jetzt wär’s gut«, sagte der Sergeant lässig.
Der Bote nickte und rannte los wie ein abgeschossener Pfeil.
Er hastete leere Korridore und Tunnel entlang; jeder Schritt seiner Route war vorherbestimmt. Sein Ziel lag etwa eine Viertelmeile entfernt, doch Kubila brachte diese Entfernung in kaum mehr als einer Minute hinter sich. Er sah das Licht in der offenen Tür; die anderen warteten auf sein Zeichen.
»Jetzt!«, rief er, während er noch einige Schritte außerhalb des zentralen Tunnels war.
Die Archonten, die hinter der Tür gewartet hatten, hörten ihn und nickten einander zu.
Trug, die »Stimme«, rief den Befehl des Sergeanten in das Hauptsprechrohr, sodass seine Worte überall in den Bergen zu hören waren.
»Jetzt!«
Dreekak, der Meister der Tunnel und verantwortlich für das Netz der Schächte, durch welche die Bestie nun kroch, ergriff das große Ventil und drehte mit aller Kraft an dem Rad, bis sich die Schleusen öffneten. Überall im Kessel taten seine Tunnelarbeiter das Gleiche.
Die Drachin spürte eine Veränderung in der Luft, als diese fortgedrückt wurde, doch sie konzentrierte sich so sehr auf ihre Beute, dass sie sich nicht ablenken ließ. Sie kroch weiter vorwärts, bis ihre empfindlichen Nüstern plötzlich vom Gestank der Kloake überwältigt wurden.
Aus der zentralen Zisterne und allen anderen Sammelbecken schoss gleichzeitig eine enorme Flut heran. Und rollte mit aller Gewalt, deren die Rohre fähig waren, auf sie zu.
Entsetzen erfüllte das Bewusstsein der Drachin. Ekel überwältigte sie und wurde verstärkt durch ihren scharfen Drachensinn. Was für ein gewöhnliches Wesen abstoßend bis zum Übergeben gewesen wäre, setzte die Drachin vollkommen außer Gefecht. All ihre Sinne, ihre Bewegungsfähigkeit und ihr Gleichgewicht wurden durch den Ansturm der Exkremente und des Unrats überwältigt, die in einer riesigen, stinkenden Welle auf sie zurollten. Sie versuchte sich aufzurichten, im Tunnel umzudrehen und zu fliehen, sogar sich in die Erde zu vergraben, doch die Tunnel, die ursprünglich von ihrem schon lange toten, viel gehassten Gemahl aus verstärktem Stahl gebaut worden waren, gaben einfach nicht nach. Sie stieß einen Schrei der Hilflosigkeit aus und stand sich mit ihren Drachenarmen und Drachenbeinen, an die sie noch nicht ganz gewöhnt war, selbst im Weg, als ein Meer aus Dreck sie umspülte, sie überflutete, sie zu ersticken und zu ertränken drohte. In hrekin.