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Am Rande des Drachenbewusstseins entzündete sich wieder das Feuer des Hasses. Sie wusste noch nicht, wer diese Frau war oder warum ihr eigenes säurehaltiges Blut bei dem Gedanken an sie kochte, doch sie wusste, dass die Erinnerung daran irgendwann zurückkommen würde.

Als sie kam, schwor die Drachin, dass all das unverbrauchte Feuer, all der unterdrückte Hass sich in einer donnernden Wut entladen werde, welche die Grundfeste der Welt erschüttern, das endlose Eis zu grauem Staub zermalmen und sogar die Marmormauern des Gefängnisses aufbrechen würde, das ihre Heimat und ihr Nest war.

Die Bestie kroch weiter auf das Schloss zu und suchte Schutz vor der hereinbrechenden Nacht.

4

Haguefort — Navarne

Gwydion Navarne wartete besorgt in dem reich ausgestatteten Korridor vor den Türen der Großen Halle von Haguefort, der rosenfarbenen Steinburg, die sein angestammtes Heim war. Seine sechzehn Lebensjahre waren vom Verlust seiner Mutter und danach seines Vaters und von einigen Beinahe-Verlusten bestimmt. Daher war er immer besorgt, wenn hinter verschlossenen Türen wichtige Gespräche geführt und wesentliche Entscheidungen getroffen wurden und er draußen im Korridor warten musste.

Diesmal war er besonders nervös. Seine Vormunde, der Herr und die Herrin der Cymrer, hatten ihn beinahe zu jeder wichtigen Staatsentscheidung hinzugezogen, die seit dem Tod seines Vaters vor drei Jahren zu fällen gewesen war. Doch nun hatten sie ihn höflich gebeten, draußen zu warten, was ihn sehr aufregte, auch wenn er sich sagte, dass dafür kein Grund bestand. Er vertraute seinem Paten und dessen Frau, die ihn als Enkel adoptiert hatte. Doch trotz dieses Vertrauens waren seine Nerven an diesem Morgen sehr angespannt.

Seine Besorgnis wurde zu regelrechter Bestürzung, als die geschätztesten Berater seiner Vormunde nacheinander in dem Korridor vor der Großen Halle eintrafen. Jeder wurde angekündigt und rasch eingelassen, während Gwydion weiterhin seine Runden auf dem dicken Teppich aus gewebter Seide drehte.

Als schließlich ein ihm vertrauter Ratgeber erschien, handelte Gwydion. Er entschloss sich, Anborn anzusprechen, den Großmarschall und General aus dem cymrischen Krieg. Der Grund dafür lag weniger darin, dass Anborn sein Lehrer gewesen war, sondern in dessen Lähmung. Der cymrische Held musste auf einer Sänfte getragen werden, und bei seiner Ankündigung gab es eine Verzögerung, sodass Gwydion die Gelegenheit ergreifen und mit ihm reden konnte, bevor er in der Großen Halle verschwand.

»Marschall! Was geht da drinnen vor sich?«, fragte er, während er sich zwischen die Sänfte und die Tür stellte. Anborn gab den Trägern das Zeichen, ihn abzusetzen und allein zu lassen. Seine azurblauen Augen – die Farbe der cymrischen Dynastie – blitzten unter den gerunzelten Brauen in einer Mischung aus Verärgerung, Belustigung und Zuneigung.

»Woher soll ich das wissen, du junger Narr? Dank dir bin ich doch noch nicht einmal durch die Tür gekommen. Tritt zur Seite, dann werde ich es vielleicht erfahren.«

»Versprecht Ihr mir zurückzukommen, sobald Ihr es wisst, und es mir zu verraten?«, bedrängte Gwydion ihn.

»Wenn Rhapsody und Ashe Euch zum Gespräch geladen haben, muss es um etwas sehr Wichtiges gehen.«

Der General schüttelte seine Mähne aus dunklem, vom Silber des Alters durchzogenem Haar und schnaubte verächtlich.

»Gewiss, obwohl ich bezweifle, dass ich während der ganzen Unterredung anwesend sein werde. Wo du deine Kaufmannslehre machst, interessiert mich nicht besonders.«

Gwydions Gesicht verzerrte sich, als eisiges Entsetzen seine Eingeweide packte.

»Eine Kaufmannslehre? Sie wollen mich in die Lehre schicken? Bitte sagt, dass das nicht stimmt.«

Der General gab den Sänftenträgern ein Zeichen. »Also gut. Es stimmt nicht. Geh mir aus dem Weg, Halunke. Ich will diese verfluchte Zusammenkunft hinter mich bringen, damit ich mich wieder wichtigeren Dingen widmen kann. Ich muss meine Männer ausbilden, meine Stiefel säubern, mir die Nase schnauzen und einem menschlichen Rühren nachkommen – was auch immer; alles ist wichtiger als dieser Unsinn.«

»Eine Lehre?«

»Kopf hoch, Junge, um Himmels willen«, sagte der General, während die Soldaten die Sänfte anhoben. »Wenn du eines Tages Herzog sein willst, ist es für deine Ausbildung unerlässlich, dass du für eine gewisse Zeit fortgehst. Dein eigener Vater war zu seiner Jugend Lehrling bei vielen Meistern. Du wirst es überleben, und es wird dir gut tun.« Die Türen öffneten sich. Die Sänfte des Generals wurde in die Halle getragen, und hinter ihm schlössen sich unbarmherzig die Türen.

Gwydion sank auf eine Bank aus geschnitztem Mahagoniholz und ächzte.

»Was ist los?«

Er schaute auf und sah Melisande, seine neunjährige Schwester. Sie blickte ihn besorgt mit ihren dunklen Augen an. Gwydion lächelte rasch.

»Vielleicht gar nichts, Melly«, versuchte er ihr zu versichern. Melisande hatte dieselben Schrecken durchlitten wie er, aber sie war viel jünger. Zwischen Gwydion und seinen Vormunden hatte die unausgesprochene Übereinkunft bestanden, das Leben seiner kleinen Schwester so sorgenfrei wie möglich zu gestalten.

»Du lügst«, meinte Melly gelassen. Sie steckte ihre Strohpuppen in eine Tasche und setzte sich neben ihm auf die Bank.

»Nein, ich lüge nicht«, gab Gwydion zurück. Er drehte sich um und sah, wie Jal’asee, der Botschafter der fernen Insel der Meeresmagier, das entgegengesetzte Ende des Korridors betrat. Beide Geschwister sahen mit ehrerbietigem Schweigen zu, wie der alte Mann mit seiner Gefolgschaft aus drei Leuten herbeikam. Jal’asee war ein alter Seren und stammte von einer der fünf Menschenrassen ab, die ihren Ursprung in vorgeschichtlicher Zeit hatten. Seine Herkunft war an der großen, dünnen Gestalt, der goldenen Haut und den dunklen, funkelnden Augen deutlich zu erkennen; es hieß, die Seren stammten von den Sternen ab. Gaematria, die mystische Insel, auf der sie sich ihre Heimat gemeinsam mit anderen alten Rassen und einigen gewöhnlichen Menschen geschaffen hatten, die vor Jahrhunderten als Flüchtlinge gekommen waren, lag dreitausend Meilen weiter westlich in der Mitte des weiten Zentralmeeres. Angeblich war es einer der letzten Orte auf der Erde, wo Magie noch als Wissenschaft angesehen und ausgeübt wurde.

»Wenn die Meeresmagier einen Abgesandten schicken, muss es um etwas ganz anderes gehen«, dachte Gwydion laut nach. »Es wäre vermessen zu glauben, meine Ausbildung sei für sie oder für irgendjemanden außer Rhapsody, Ashe und vielleicht Anborn von Bedeutung.«

»Vielleicht wollen sie dich hinrichten lassen«, meinte Melisande scherzhaft und holte ihre Strohpuppen wieder hervor. »Der Bericht der Lehrer war möglicherweise schlechter, als wir uns vorstellen können.«

In diesem Augenblick öffneten sich die Türen, und ihr Vormund kam heraus. Beide Kinder standen sofort auf. Der Herrscher der Cymrer, dessen Name ebenfalls Gwydion lautete, den sie aber im kleinen Kreis immer nur Ashe nannten, steckte in einer höfischen Robe, was so selten der Fall war, dass sowohl Melisande als auch Gwydion unruhig wurden.

Die Augen des cymrischen Herrschers waren himmelblau und hatten senkrechte Pupillen, die das Drachenblut in seinen Adern verrieten. Sie glänzten warm, als er die Kinder bemerkte.

»Melly! Du bist auch hier! Ausgezeichnet. Bitte bleib noch eine Weile vor der Halle. Man wird dich bald hereinholen.« Er streckte die Hand nach Gwydion aus. Sie steckte in einem Ärmel aus weißer Seide mit dunkelroten Streifen und einem Lederumschlag. »Kommst du bitte mit mir, Gwydion?«

Der Junge tauschte einen entsetzten Blick mit seiner Schwester aus und folgte Ashe durch die gewaltigen Flügeltüren, die sich beinahe unmerklich hinter ihnen schlössen.

Als sie durch den Eingang zur Großen Halle schritten, schaute Gwydion hoch zu der gewölbten Decke, auf der alte Fresken, welche die Geschichte des cymrischen Volkes erzählten, sorgfältig um einen dunkelblauen Mittelpunkt angeordnet waren. Als sein Vater noch gelebt hatte, hatten sie die Große Halle nur zu seltenen Gelegenheiten betreten und die meiste Zeit in den Familiengemächern und der Bibliothek verbracht, sodass die Pracht der Halle für Gwydion nie zur Selbstverständlichkeit geworden war. Er folgte mit den Augen unwillkürlich der Geschichte seiner Vorfahren, die vor vierzehn Jahrhunderten von der dem Untergang geweihten Insel Serendair geflohen waren. Jedes Joch des Deckengewölbes umfasste einen bestimmten Abschnitt der Geschichte. Gwydion schaute hoch zum ersten Fresko, auf welchem dem Herrscher Gwylliam ap Rendlar ap Evander tuatha Gwylliam, manchmal auch Gwylliam der Visionär genannt, die Erkenntnis zuteil wurde, dass die Insel bei der Erhebung des Schlafenden Kindes, einem gefallenen Stern, der in den Tiefen des Meeres brannte, von vulkanischem Feuer verzehrt werden würde. Gwydion wurde noch aufgeregter, als er erkannte, dass die höfische Kleidung, die Gwylliam trug, stark derjenigen von Ashe glich.