»Du kannst innerhalb eines Herzschlags im Gwynwald sein, wenn du entlang der Wurzel des Großen Weißen Baumes reist«, flüsterte die wahnsinnige Seherin und zitterte im Wind. »Die Pfahlwurzeln führen durch die gesamte Welt und sind mit der Hauptwurzel des Baumes verbunden. Dieser wiederum steht in Verbindung zur Axis Mundi, der Mittelachse der Erde. Jeder, der Drachenblut in sich hat, kann in ätherischer Gestalt an diesen Wurzeln entlang reisen, weil die Erde uns gehört. Die Wurzeln führen unmittelbar zum Großen Weißen Baum in der Mitte des Waldes. Von dort bis zum Nest ist es für einen Menschen nur eine Reise von wenigen Tagen – und für einen Drachen noch viel weniger.«
Die Drachin sog langsam die Luft ein und versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen.
Wo finde ich eine Pfahlwurzel?, fragte sie beiläufig, als sie bemerkte, dass die Haut des Orakels grau geworden war und sich ihre Augen wieder umwölkten. Lies die Sterne für mich, süße Schwester.
Manwyn schaute erneut in den Sextanten.
»Du wirst dich hier in den Wüstensand bohren und dem Lehm folgen, bis er im Norden braun wird, am trockenen Bett des Blutflusses. Dort findest du die Pfahlwurzel, nach der du suchst.«
Die Augen der Drachin glitzerten siegesgewiss.
Vielen Dank, Schwester, sagte sie kühl und hatte die Gedanken schon auf den Weg gerichtet. Sie schlüpfte zurück in den Schlitz im Lehm, aus dem sie hervorgekommen war, und verschwand in der Erdkruste, während das Orakel sie verwirrt beobachtete.
Kaum hatte sich die Erde nach der Abreise der Drachin wieder beruhigt, als Manwyn noch etwas sagte.
»Auf der Suche nach ihr wirst du deine eigene Nachkommenschaft töten.«
Anwyn war schon zu weit entfernt, um sie hören zu können.
Die Seherin starrte in die Sternennacht und sah zu, wie die südlichen Spitzen der Aurora farbsatt aufglühten. Das pulsierende Licht gefiel ihr, und sie betrachtete es, bis der Wind zu kalt wurde.
Dann zog sie ihre dünnen Seidenfetzen enger um sich und ging langsam zurück zu ihrem verfallenden Tempel; sie hatte bereits vergessen, warum und wie sie ihn verlassen hatte.
40
Als das Lied von Meridions Geburt allmählich verblasst war, die Wärme in der Höhle abnahm und Blut sowie Nachgeburt beseitigt worden waren, nahm Krinsel das Kind aus Ashes Armen. Sie blickte es so finster an wie möglich und trug es zu seiner Mutter, damit es genährt wurde. Ashe gab Achmed ein Zeichen. Er war in einer stillen Ecke der Höhle geblieben und kam nur zögerlich daraus hervor. Die beiden Männer gingen ein wenig den Tunnel hinauf, bis sie außer Hörweite der Frauen waren.
»Vielen Dank für deine Hilfe«, sagte der Herr der Cymrer und streckte Achmed die Hand entgegen.
Der Firbolg-König schnaubte. »Ich glaube nicht, dass Zuschauen aus der Ecke als Hilfe zu werten ist«, sagte er bitter. »Du solltest lieber meiner Hebamme danken. Sie ist diejenige mit Blut an den Händen.«
Die Wärme in Ashes Augen verflog.
»Nun, in gewisser Weise haben wir alle Blut an den Händen, Achmed«, sagte er gelassen und versuchte den zornigen Drachen in seinem Blut im Zaum zu halten. »Bei ihr dient es wenigstens einem guten Zweck. Ich danke dir trotzdem dafür, dass du meiner Frau das Leben gerettet hast.«
Der Bolg-König nickte flüchtig.
Ashe räusperte sich unbeholfen.
»Gehst du sofort nach Ylorc zurück?«
»Sehr bald.«
Ashe nickte. »Dann will ich dich nicht aufhalten. Ich fürchte, ich kann dich nicht dazu überreden, über den Kreis oder über Navarne zurückzureisen und Rhapsody und dem Kind von dort einen Wagen zu schicken?«
»Nein, das kannst du nicht«, sagte Achmed gereizt. »Sowohl der Kreis als auch Navarne liegen im Süden und ziemlich weit von meiner Reiseroute entfernt. Ich habe schon zu viel Zeit mit Feiern und Amtseinsetzungen in deinem Land zugebracht, zum Nachteil meines eigenen Reiches. Ich habe getan, was Rhapsody von mir verlangt hat, und ihr für die Geburt meine Hebamme gebracht, der sie vertraut. Nun ist es vorbei, und ich sehe weder die Notwendigkeit, länger hier zu bleiben, noch meine Rückkehr wegen deiner Aufträge zu verzögern. Vielleicht erlaubt dir deine Position, längere Zeit von deinem Reich wegzubleiben; meine erlaubt es mir jedenfalls nicht. Jedes Mal, wenn ich nach Westen reise, um Rhapsodys Launen oder Bitten zu entsprechen, kehre ich in ein abscheuliches Chaos zurück. Ich bin gespannt, was mich diesmal bei meiner Rückkehr erwartet.«
»Trotzdem vielen Dank«, erwiderte Ashe und bemühte sich, seine Hochstimmung nicht zu verlieren. »Ich hoffe, du hast eine gute Reise.«
Die Bolg-Hebamme hüstelte höflich hinter den beiden Männern.
»Rhapzdi braucht zwei Tage Ruhe und Aufmerksamkeit, aber dann muss das Kind nach Hause zurückkehren«, sagte sie vorsichtig. »Die Tauperiode ist bald vorbei; dann wird es für den Kleinen zu kalt zum Reisen sein. Wird seiner Lunge schaden.«
»Sie können bis zum nächsten Frühjahr bei mir bleiben«, sagte Elynsynos, während sie ein leuchtendes Halsband aus glitzernden Juwelen über dem Kopf des Kindes schwenkte. Sie kicherte, als sich die kleinen senkrechten Pupillen in dem strahlenden Licht verengten. Die Bolg-Frau schüttelte den Kopf.
»Rhapzdi ist schwach. Hat viel Blut verloren. Braucht Heiler und besondere Medizin. Muss bald zurückkehren.«
Ashe spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog. »Könntest du wenigstens diese beiden Tage hier bleiben?«, fragte er Achmed, als er die Besorgnis in Krinsels Blick bemerkte. »Ich breche sofort nach Navarne auf und kümmere mich um einen Wagen. Wenn du dich entschließen könntest, die zwei Tage, die Krinsel zur Beobachtung für nötig ansieht, bei Rhapsody zu verbringen, kann ich sie wenigstens allein lassen, weil ich dann weiß, dass sie in größtmöglicher Sicherheit ist.«
»Dann will ich meine Pläne für dich ändern, Ashe, denn dein Seelenfrieden ist mir wichtiger als alles andere«, meinte Achmed hämisch. Er warf einen Blick über die Schulter und sah die Hebamme an, die zustimmend nickte.
»Vielen Dank«, sagte der Herr der Cymrer, ergriff Achmeds Hand und schüttelte sie heftig. »Wenn ich sie schon verlassen muss, tröstet mich das Wissen, dass sie bei dir in Sicherheit sind. Ich gehe sofort und möchte ihnen nur noch Lebewohl sagen.«
Achmed wartete, bis der Herr der Cymrer so lange weg war, dass er schon den Tar’afel überquert haben musste, bevor er sich Rhapsody näherte, die das schlafende Kind in einer Ecke der Höhle in den Armen wiegte und dabei eine wortlose Melodie sang.
Er beobachtete sie eine Weile. Das goldene Haar, das sie sonst mit einem einfachen schwarzen Band zurückgebunden hatte, fiel ihr in Wellen über die Schultern, wodurch sie jünger und verletzlicher schien, als er sie je gesehen hatte. Sie sah hoch zu ihm. Ihr Lächeln war strahlend, und er verspürte ein unangenehmes Ziehen in der Herzgegend, so wie es in ihren frühesten gemeinsamen Tagen gewesen war, als sie entlang der Wurzel gereist waren, die die Welt zerteilte. Diese Zeit war schon lange vergangen und verloren, und manchmal sehnte er sich nach ihr zurück. Es war eine Zeit, in der keiner von ihnen verantwortlich für andere Leute, ja, für ganze Königreiche gewesen war und die Welt aus kaum mehr als Rhapsody, Grunthor, ihm selbst und dem andauernden Kampf bestanden hatte, einen weiteren Tag an einem Ort zu überleben, wo niemals jemand nach ihnen suchen würde.
»Schläft er?«, fragte er unbeholfen.
»Ja, fest«, antwortete Rhadsody; ihr Lächeln wurde noch breiter. »Möchtest du ihn einmal halten?«
Der Bolg-König hüstelte. »Nein, danke«, sagte er hastig und schaute sich in der glitzernden Höhle um. »Wo ist die Übersetzung? Da ich hier die nächsten beiden Tage festsitze, könnte ich während dieser Zeit etwas Vernünftiges tun und den Text lesen.«
Rhapsodys Gesicht verhärtete sich, und ihre Stimme verlor jede Sanftheit.
»Haben wir das nicht schon abgehandelt?«