»Ja, das haben wir. Gib mir die Übersetzung.«
Schweigen setzte ein. Die Stille war so tief, dass sie das Kind bemerkte. Es wimmerte zuerst im Schlaf, dann erwachte es und schrie laut.
Rhapsody schüttelte den Kopf und schaute weg.
»Unglaublich«, sagte sie wütend und wiegte das Kind, als sein Schreien an Lautstärke und Verzweiflung zunahm. »Nach allem, was wir gerade durchgemacht haben, nach allem, was ich dir gesagt habe, bestehst du immer noch darauf, diesen Wahnsinn zu verwirklichen?«
Achmed schaute sie böse an.
»Wahnsinn zu verwirklichen hat Tradition bei uns, Rhapsody«, sagte er harsch. »Du hörst nie auf meine Bedenken, und daher habe ich das Recht, auf deine ebenfalls nicht zu hören. Du hast deine Position völlig klar gemacht – genauso klar wie dein Versprechen, mir bei dieser Sache in jeder Hinsicht zu helfen. Da ich dir wieder einmal in der Stunde höchster Not zu Hilfe geeilt bin, wirst du sicherlich bereit sein, mir ebenfalls einen Gefallen zu tun, wenn du mir schon nicht dankbar bist. Gib mir jetzt endlich die verdammte Übersetzung.«
Der nebelhafte und ätherische Kopf der Drachin erschien über dem hohen Berg aus Gold und Juwelen am Rand des Wassers.
Soll ich ihn verspeisen, meine Schöne?, fragte die Bestie scharf.
Rhapsody starrte Achmed weiterhin an, erwiderte seinen Blick und holte schließlich tief Luft.
»Nein«, sagte sie fest. »Gib sie ihm.« Sie zog das Kind näher an sich und bemerkte, dass die Drachin überrascht blinzelte. Dann verschwand sie im Äther. Einen Augenblick später erschien zwischen den Münzen auf dem Boden vor Achmeds Füßen ein in Leder gebundenes Buch, dessen Seiten zur Hälfte leer waren.
»Nimm es«, sagte Rhapsody bitter. »Und dann verschwinde. Ich will dich nie wieder sehen.«
Achmed ergriff das Buch.
»Vielen Dank«, sagte er. Er öffnete den Band rasch und überflog die Seiten, die sorgfältig in Rhapsodys zierlicher Handschrift beschrieben waren. Vieles davon bestand aus Musikschrift, doch alle Noten waren kommentiert.
»Geh«, forderte Rhapsody ihn auf. »Ich meine es ernst, Achmed.«
Ihre Worte hallten durch die Höhle, und die Wahrhaftigkeit der Benennerin schwang in ihnen mit.
Der Bolg-König hob den Blick seiner verschiedenfarbigen Augen und sah in die von Rhapsody; sie glänzten und waren so grün wie Sommergras.
»Ich habe deinem Gemahl versprochen, zwei Tage zu bleiben«, sagte er knapp. Er hasste das Gefühl, zwischen zwei widerstreitenden Interessen zu stehen.
»Ich entbinde dich von deinem Versprechen, selbst wenn du mich von meinem nicht entbinden wolltest«, sagte Rhapsody wütend. »Nimm deine verdammte Übersetzung und Krinsel und alles andere, was du mir gegeben hast, einschließlich deiner Freundschaft, und geh. Was du von mir verlangt hast, hat unsere Freundschaft beendet. Ich kann dich nicht vor dir selbst oder vor deiner eigenen Dummheit schützen, aber ich muss nicht zusehen, wie du mit diesem Wissen herumpfuschst, das du nicht verstehst. Mit deinen Taten bedrohst du diese Welt – die Welt, die mein Kind gerade betreten hat. Das kann ich dir nicht vergeben, Achmed. Geh weg.«
Der Bolg-König dachte kurz nach und nickte. Er drehte sich um und gab der Hebamme, die ihn besorgt beobachtete, ein Zeichen. Sie sagte nichts, sondem bückte sich, hob ihren Beutel und dessen Inhalt auf und folgte dann dem König durch den langen, gewundenen Tunnel zurück zum Licht und zur Kälte des Waldes.
Rhapsody wartete, bis ihre Schritte nicht mehr durch den Tunnel hallten, bevor sie in Tränen ausbrach. Die Luft der Höhle glimmerte hinter und neben ihr. Elynsynos erschien und wiegte sie in ihren Klauen. Ganz ruhig, meine Schöne, ganz ruhig, sagte die Drachin sanft.
Rhapsody schüttelte den Kopf.
»Versuch bitte nicht, mich zu trösten, Elynsynos«, sagte sie schwach und fuhr mit den Fingern durch das wellige Haar ihres Sohnes, als er wieder einschlief. »Sein Vorhaben bedeutet, dass niemand von uris je wieder einen Grund haben wird, Trost zu empfinden.«
41
Nord-Yarim
Das trockene Bett des Blutflusses war eine lange, tiefe Sandrinne über einer Lage aus rotem Ton, überzogen mit einer dünnen Schicht aus Schnee. Für die Drachin waren die drei Schichten der bestmögliche Ort, um sich vom Gestank und dem restlichen Unrat zu befreien. Sie bohrte sich spiralenförmig durch den Lehm und erlaubte sich den schmerzhaften Luxus, sich im Sand zu rollen, bis sie schließlich ganz von Schnee überzogen war, der ihr wütendes Fleisch kühlte.
Im Vergleich zu dem, was sie jetzt fühlte, war jene Wut, die sie vor dem Angriff auf Ylorc verspürt hatte, nur eine Gereiztheit und Verstimmung gewesen. Sie war von glühender, vulkanischer Wut zu etwas viel Beängstigenderem geworden: zur kalten, gefühllosen Haltung eines geschmähten Drachen. Es war dieselbe kühle Haltung, mit der sie den Untergang eines halben Kontinents geplant hatte, mit der sie die meisten unheiligen Taten und jene unverzeihlichen Sünden begangen hatte, angesichts derer sie dankbar war, ohne Seele geboren worden zu sein, damit sie nicht eines Tages für sie bezahlen musste.
Nichts davon hatte nun eine Bedeutung. Sie erinnerte sich nicht an ihre Taten und Sünden; sie kannte nur noch ein einziges Ziel, das alle Gedanken und Wünsche überlagerte.
Sie suchte beinahe einen ganzen Tag vergebens, bevor sie die Pfahlwurzel des Großen Weißen Baumes fand, die laut ihrer Schwester an diesem unfruchtbaren Ort zu finden war. Sie war zu kaum mehr als einem unterirdischen Zweig vertrocknet und geschrumpft, doch in ihren Fasern war die alte Kraft noch gegenwärtig. Die Drachin erinnerte sich nicht an den Baum, aber irgendwo in ihrem Verstand gab es einen Ort, wo sich diese Erinnerungen befinden mussten, denn sie waren einmal sehr wichtig für sie gewesen.
Die Drachin stärkte ihre Nerven und konzentrierte sich darauf, ihren verachteten Wurmkörper zu transzendentem Fleisch zu verwandeln und ätherisch zu werden.
Dann schlüpfte sie in die dünnen, trockenen Wurzelhaare, kroch an ihnen entlang, während sie allmählich dicker und feuchter wurden, wurde schneller und eilte nun durch die dickere Wurzel, wobei sie Kraft aus dem Baum zog, den ihre Mutter so sorgsam gepflegt hatte. In einem einzigen Schlag ihres dreikämmerigen Herzens gelangte sie so von einem Land zum anderen.
Der Fürbitter Gavin war nach Sepulvar-ta gerufen worden, um sich dort mit dem Patriarchen zu treffen, dem einzigen ihm ebenbürtigen religiösen Führer auf dem mittleren Kontinent. In seiner Abwesenheit räumten seine filidischen Naturpriester, die sich um den Baum und den heiligen Wald kümmerten, die Schäden des Winters beiseite, ernteten die Kräuter und winterfesten Pflanzen, die während der Tauperiode geblüht hatten, und rüsteten sich für die Rückkehr des Schnees. Dann erschien die Drachin; sie schwebte im Äther am Fuß des Baumes.
Zuerst hielten die Filiden entsetzt inne, denn sie glaubten, sie sähen einen Geist. Vor drei Jahren war Gwydion von Manosse, der Herr der Cymrer, der Drachenblut in sich hatte, durch ihren Wald gekommen, um sich an Khaddyr zu rächen, dem vom Glauben abgefallenen Fürbitter, der Gwydions Vater Llauron ersetzt hatte und sich in den Klauen eines F’dor-Dämons befunden hatte. Dabei war ein großer Teil des Waldes einem reinigenden Feuer zum Opfer gefallen, das hauptsächlich die Hütten und Siedlungen der Verräter verzehrt und den Rest verschont hatte.
Ein Blick in die hypnotischen, entsetzlichen Augen dieser Bestie vertrieb jede Hoffnung auf eine solche Wendung.
Die Bestie sog die Luft ein und stieß sie wieder aus. Als der Feueratem ihren Rachen verließ, brannte er. vor der schieren Hitze in ihrem Bauch schwarz an den Rändern und glühte blau im Innern.
Die Drachin schloss rasch die Augen und konzentrierte sich. Sie genoss die Qualen und trank die Pein und Angst, die in der rauchgeschwängerten Luft hingen, als das Feuer über Haufen aus versengten Knochen und Asche schwächer wurde.
Es war ein köstliches Gefühl.