Die Drachin öffnete die Augen. Nun war ihre Mordlust befriedigt. Sie sah eine Wiese und in ihrer Mitte den Baum, dessen gleißende weiße Zweige sich so hoch erstreckten, wie das Auge reichte, und ein Dach über die gesamte Wiese bildeten. Hinter dem ekelhaften Dunst, der nach verbranntem Menschenfleisch stank, erkannte sie eine Ansammlung von Hütten. Einige waren stattlich, andere winzig, allesamt recht neu, und jede hatte einen kleinen Vorgarten und seltsame magische Zeichen über der Tür. Dieser Anblick war ihr vertraut. Sie schaute zum Rand der Wiese und versuchte sich daran zu erinnern, was an diesem Bild fehlte, doch sie kam nicht darauf.
Überall um sie herum schwebte das Lied des Baumes; es war ein tiefes, melodisches und schmerzlich schönes Summen, in dem die Töne der lebenden Erde mitschwangen. Die Drachin spürte ein Ziehen im Herzen – oder in dem, was sie an Stelle eines Herzens hatte. In gewisser Weise wusste sie, dass dieser Ort für sie einmal sehr wichtig gewesen war; wenn sie sich anstrengte, konnte sie vielleicht Erinnerungen an diese natürliche Kathedrale heraufbeschwören. Hier stand noch einer der fünf Bäume, die an den Geburtsorten der Zeit wuchsen.
Die Heiligkeit dieses Ortes war unverkennbar und unleugbar.
Die Drachin stählte ihren Willen.
Ich habe mich entschieden, unheilig zu sein, dachte sie grimmig. Es ärgerte sie, dass die Rinde des Baumes nicht unter ihrem Atem gelitten hatte. Nicht einmal die Blätter waren verdorrt oder verbrannt, während das Gras versengt war und die Pfleger des Kreises nur noch menschlicher Abfall waren. Es war ein erneuter Widerstand gegen ihre Macht, die schon von einem Berg voller halb menschlicher Bolg infrage gestellt worden war, was ihre Wut nur noch mehr anfachte.
Sie hielt den Kopf schräg und suchte nach Spuren der Frau, doch nichts war im Wind – nichts als die Rufe der filidischen Priester und Waldhüter, die fluchtartig vor dem befürchteten Angriff das Gebiet verließen. Tief im Gwynwald, an der Westküste, hinter dem Tar’afel, hatte Manwyn gesagt.
Die Drachin schloss wieder die Augen und horchte auf das Geräusch des Flusses. Er lag jenseits der Reichweite ihrer Sinne, doch sie erkannte am Grundwasserspiegel, an dem gewundenen Flusslauf und den Standorten der Bäume, dass der Fluss im Norden liegen musste. Also vergrub sie sich wieder in der Erde und folgte dem Geräusch des Wassers.
Die Stimme des Tar’afel war weitaus einfacher aufzuspüren als der alte Widerhall ihres eigenen Namens. Sie war wie ein Leuchtfeuer in der Erde, rauschte bei Niedrigwasser endlos und ohne Hast dem Meer entgegen und trug große Eisblöcke mit sich, die mit der Herankunft der Tauwetterperiode abgebrochen waren und nun flussabwärts trieben.
Der Winter kehrte zurück, und die Strömung wurde langsamer. Die Drachin hörte es meilenweit. Als sie sich dem Flussbett näherte, wurde die Erde, durch die sie sich pflügte, feuchter, und es wurde zunehmend unangenehmer, die schlickigen Schichten zu durchqueren.
Schließlich ertrug sie es nicht länger. Sie bohrte sich wieder an die Oberfläche und reiste ungesehen im Reich der Luft durch den unbewohnten Wald. Die Waldgeschöpfe waren schon lange geflüchtet, als sie die Gegenwart der Drachin gespürt hatten; einige hatten sich sogar unter die Erde begeben.
Der Fluss war noch eine Meile entfernt. Sie stellte seine Tiefe und die Geschwindigkeit fest, in der das Wasser dahinströmte, und machte sich auf den Weg zum schlammigen Ufer, das beinahe bis zum Wasserrand gefroren war. Schneidende Kälte lag hier in der Luft. Sie befand sich so nahe wie noch nie seit ihrer Abreise bei ihrem Nest, auch wenn es noch etwa tausend Meilen entfernt lag. Am Rand des Wassers versuchte sie, dieses zu überqueren, und hoffte dabei in die ätherische Gestalt wechseln zu können, in der sie bis zum Kreis gereist war; ohne die Macht des Baumes aber war sie in ihrer Stofflichkeit gefangen. Ihr Körper war schwer und fest, was für die Überquerung des Flusses nichts Gutes verhieß.
Doch die Wut brannte immer dunkler in ihr und trieb sie an.
Behutsam watete die Drachin ins Wasser. An der Stelle, die sie sich ausgesucht hatte, war der Fluss nicht so breit, wie sie selbst lang war, daher kam es nur darauf an, der Strömung zu widerstehen, feste Steine im Flussbett zu finden und dabei die tiefen Stellen und Strudel zu umgehen, die sie beim Eintauchen in das Wasser deutlich spürte.
Auf halbem Weg überfiel sie plötzlich eine Erinnerung – oder etwas, das einer Erinnerung ähnlich war. Die Frau, nach der sie suchte, hatte den Fluss an derselben Stelle oder zumindest in der Nähe durchquert, denn sie hatte hier eine Spur hinterlassen.
Noch heißer loderte der Zorn der Drachin auf. Dampf stieg in wogenden Wellen auf und schwebte in deutlich sichtbaren, Unheil verkündenden Wolken über dem Wasser.
Sie schob sich weiter voran, und die krallenbewehrten Klauen hinterließen tiefe Abdrücke in dem kalten Matsch. Schließlich zog sie sich aus dem Wasser ans Ufer.
Als sie sich nach Norden wenden wollte, bewegte sich die Luft vor ihr und glimmerte.
Die Drachin hielt inne; sie fühlte sich, als ob ihr plötzlich aller Atem aus der Lunge gepresst worden wäre. Die elementare Kraft, die unsichtbar und für die überwältigende Mehrheit der lebendigen Welt unspürbar in der Luft des Waldes hing, wurde dünner und knisterte trocken.
Die Drachin rang nach Atem.
Unmittelbar vor ihr bildete sich ein Umriss. Er war so groß wie sie selbst und hatte annähernd die gleiche Gestalt: einen großen, mit einem Hörn bewehrten Kopf, einen langen, peitschenartigen Schwanz und hauchdünne Schwingen, die hoch in die Luft gereckt waren. Eine ganz leichte Spur aus Kupfer lag auf der schuppigen Haut, die sich im Wind formte, doch zum größten Teil war sie grau wie der Rauch eines Buschfeuers und schimmerte in elementarem Glanz.
Die Drachin erstarrte.
Schließlich erschien vor ihr ein anderer Drache in fester Gestalt. Eine tiefe und angenehm warme Stimme hallte durch die eiskalte Luft.
Hallo, Mutter.
Wut durchströmte sie. Die Haut der Bestie wurde sofort trocken und gab dabei einen wallenden Dampf ab. Ich bin erfreut, aber auch ein wenig überrascht, dich lebend zu sehen. Die Stimme des grauen Drachen hatte ein leichtes, beinahe musikalisches Timbre von un-missverständlichem Ernst.
Wer bist du?, wollte sie wissen. Ihre vieltonige Stimme schwankte leicht. Dieses Wesen war das Erste, das sie seit ihrem Erwachen mit Ehrerbietung und Freundlichkeit begrüßte, und darin lag sowohl etwas Bezauberndes als auch Beängstigendes, das sie gleichzeitig schwach und abwehrend machte.
Die blau-grauen Augen des Drachen vor ihr weiteten sich kurz, dann atmete er langsam aus.
Ich bin Llauron, dein Sohn und Zweitgeborener. Erinnerst du dich nicht an mich, Mutter?
Nein, antwortete die Drachin verbittert. Ich habe keine Erinnerungen an dich.
Mitgefühl trat in die Augen des grauen Drachen. Ah. Vielleicht sind sie nur ein wenig gestört. Deine Erinnerungen werden zurückkehren, und wenn nicht, dann kann ich dir helfen, sie zu finden. Im Lauf der Zeit habe ich viele mit dir zusammen erworben. Traurigkeit kroch in den mitleidigen Blick. Auch wenn man sich etliche dieser Erinnerungen wohl besser nicht zurückruft.
Ich suche nur eine einzige Erinnerung, sagte die Drachin rasch. Hilf mir, die goldhaarige Frau zu finden. Die Traurigkeit verwandelte sich in Erstaunen. Rhapsody? Warum suchst du sie?
Ihr Drachenblut wurde sofort wärmer, und ihr Herz raste vor Erregung. Rhapsody!, rief sie mit ihrer Drachenstimme. Das Wort zischte, als es mit der Luft in Berührung kam; es hallte über den Fluss und die gefrorenen Wiesen und kräuselte sich in der Säure des Hasses. Wo ist sie? Bring mich zu ihr.
Llauon erkannte seinen Fehler sofort. Soweit ich weiß, befindet sie sich weit weg von hier, sagte er wie beiläufig. Und sie ist unbedeutend. Komm mit mir, Mutter. Ich möchte dich an einen Ort führen, wo wir viel Zeit zusammen verbracht haben und ungestört sein werden. Dort können wir miteinander reden. Wenn du deine Erinnerungen auffrischen willst...