NEIN!, schrie die Bestie. Ihre Stimme durchschnitt den Winterwind und zerschlug dessen elementare Schwingungen. Die Bäume und das Gras, die sich vorhin noch unter der steifen Brise gebeugt hatten, erstarrten, und das Wasser des Flusses kräuselte sich in alle Richtungen. Die gesamte Natur in der Nähe erzitterte unter der Stimme der Drachin. Sag mir, wo sie ist, Llauron. Als deine Mutter befehle ich es dir.
Der graue Drache faltete seine zarten Flügel und betrachtete sie ernst.
Wir sollten vernünftig miteinander reden, sagte er ruhig, doch in seiner Stimme lag kaum verhülltes Missfallen.
Es ist lange her, seit du mir aufgrund dieser Tatsache befehlen konntest, Mutter, obwohl du dich vielleicht nicht daran erinnerst. Ich sage dir in aller Aufrichtigkeit, zu der ich fähig bin, dass kein atmendes Wesen auf der Welt dir treuer ergeben war als ich. Ich habe einmal alles hinter mir gelassen, was mir lieb und wert war, um dir zu gehorchen, und es hat die Welt gespalten. Meine Liebe zu dir sollte nicht in Zweifel gezogen werden. Daran wirst du dich erinnern, was immer du sonst vergessen haben magst.
Die Drachin schüttelte heftig den Kopf. Ich erinnere mich nur daran, dass diese Frau vernichtet werden muss, sagte sie bitter. Wenn du mich wirklich liebst, Llauron, musst du es mir beweisen. Sag mir, wo sie ist.
Das kann ich nicht, meinte der Drache bestimmt. Ich habe keine Ahnung. Komm, Mutter, wir sollten diesen Ort verlassen ...
Die Drachin bäumte sich auf und sog die Luft ein – und mit ihr auch die Macht des Elements.
Beim nächsten Wimpernschlag hatte sich der graue Drache in Luft aufgelöst – gerade rechtzeitig, um dem ätzenden Feuer zu entgehen, das auf ihn gezielt war und nun das gefrorene Wintergras in Brand setzte. Die Bestie atmete noch einmal aus. Eine rote und orangefarbene Flamme trat aus, schwarz an den knisternden Rändern. Sie breitete sich im Wind aus, ohne weiteren Schaden anzurichten; Wellen aus strömender Hitze zerstoben ohnmächtig, wo einen Augenblick zuvor Llauron gestanden hatte.
Wütend und mit dem Gefühl, vollends betrogen worden zu sein, stürmte die Drachin nordwärts und sang still den Namen der Frau, schmeckte dabei die Luft und hoffte, im Wind eine Spur von ihr zu finden.
42
Nachdem Achmed die Höhle verlassen hatte, schüttete er die Feuergrube zu, an der sich Krinsel während seiner Abwesenheit gewärmt hatte, und brach das kleine Lager ab. Dann nickte er der Bolg-Hebamme wortlos zu. Sie schnürte ihre Stiefel und richtete die Winterausrüstung; dann gab sie stumm das Zeichen, dass sie zur Abreise bereit war.
Sie waren kaum hundert Schritte von der Höhlenöffnung entfernt, als die Luft vor ihnen plötzlich in einem verwirrenden grauen Licht schimmerte.
Zwischen den Windstößen erschien eine gewaltige Drachengestalt, halb ätherisch, halb fest. Achmed blieb wie angewurzelt stehen, zog Krinsel geistesgegenwärtig hinter sich und senkte seine Cwellan, die er vor einigen Monaten Gwydion Navarne gezeigt hatte. Seine instinktiven Reaktionen erfolgten ohne Verzögerung, sein Verstand brauchte den Bruchteil einer Sekunde länger. Als er gerade feuern wollte, erinnerte er sich an diese Bestie. Er hatte sie auf dem cymrischen Konzil gesehen, zusammengerollt vor Ashes Füßen, sehr zum Verdruss seines Sohnes.
»Llauron?«, fragte er und senkte die Waffe.
Achmed, sagte die vertraute Stimme drängend. Wo ist mein Sohn?
Der Bolg-König kniff die Augen zusammen.
»Er ist zum Kreis zurückgekehrt oder vielleicht auch nach Navarne, um eine Kutsche für Rhapsody und deine Enkelbrut zu holen«, sagte er gehässig.
Die Augen des grauen Drachen glänzten.
Das Kind ist geboren?
»Ja«, sagte Achmed. »Tritt jetzt bitte beiseite und stell dich mir nicht mehr in den Weg, es sei denn, du möchtest Bekanntschaft mit meinen Drachentöterscheiben machen.«
Nein, meinte der Drache. Seine Besorgnis erwärmte die Luft um den Bolg-König und die Hebamme und machte sie trocken. Warte, du musst mir helfen. Anwyn kommt, sie sucht Rhapsody und will schreckliche Rache an ihr nehmen. Sie wird gleich hier sein. Du musst mir helfen, deine Freundin und meinen Enkel sofort aus der Höhle zu holen.
»Was redest du da?«, wollte der Bolg-König wissen. »Anwyn? Anwyn ist tot, wie du sehr wohl weißt; sie wurde vor drei Jahren im Gerichtshof begraben.«
Das haben wir alle geglaubt, aber wir haben uns geirrt, erklärte Llauron verzweifelt. Wir haben keine Zeit für eine gründliche Untersuchung dieses Falles und für Erklärungsversuche. Sie kommt, und sie wird bei dem Versuch, Rhapsody zu finden, jeden töten, der sich ihr in den Weg stellt. Ist sie bei Elynsynos?
»Ja«, antwortete Achmed knapp und warf einen Blick in den Wald. Die weißen Bäume, die nackt im kalten Winterwind raschelten, schienen zu erbeben. Er schaute Krinsel an, die ebenfalls heftig zitterte.
Holt sie hier heraus, befahl Llauron. In seiner Drachenstimme lagen Befehlskraft und Beharrlichkeit. Ich versuche, Anwyn abzulenken. Er verblasste wieder im Wind und ließ nichts zurück außer einem Gefühl der Panik.
Achmed machte auf dem Absatz kehrt, fasste die Hebamme am Arm und rannte zurück zum Nest der alten Drachin. Während des ganzen Weges murmelte er bolgische Unflätigkeiten.
Rhapsody hatte soeben aufgehört zu weinen, als Achmed und Krinsel wieder in der Tunnelöffnung erschienen.
Deine Freunde kehren zurück, sagte Elynsynos verwirrt. Sie legte den gewaltigen Kopf schief. Die prismatischen Augen weiteten sich plötzlich und warfen Regenbögen aus tanzendem Licht gegen die Höhlenwände. O nein, flüsterte die Drachin beim Klang der bolgischen Schritte. Nein, das kann nicht sein.
In der Wärme von Rhapsodys Armen heulte Meridion los; einen Augenblick später erhob sich sein Weinen zu einem Gekreisch der Angst.
»Was ist los?«, fragte Rhapsody nervös und schaute von der Drachin zu ihrem Kind. Beide waren ohne erkennbaren Grund in Panik geraten.
Anwyn kommt, sagte die Drachin, während sie sich vom Höhlenboden erhob und dabei Wolken aus Sand aufwirbelte. Sie rast und tobt; der Wald brennt in einem weiten Streifen zwischen dem Fluss und meiner Höhle.
»Anwyn?«, fragte Rhapsody ungläubig und stand mit dem Kind in den Armen ungelenk auf. »Wie ... wie kann das sein?«
Achmed erschien in der Tunnelbiegung.
»Komm mit mir, wenn dir dein Leben lieb ist«, sagte er scharf. Rhapsody erkannte die Worte. Es waren dieselben, die er vor einem ganzen Leben in Serendair zu ihr gesagt hatte. Es waren die Worte, mit denen ihre lange und manchmal schwierige Beziehung begonnen hatte.
»Ist es wirklich Anwyn?«, fragte Rhapsody und drückte das Kind enger an sich. Mit unsicheren Schritten ging sie auf den Bolg-König zu.
»Llauron sagt es, und ich zweifle seine Worte nicht an, auch wenn er im Leben ein Lügner war. Los, wir müssen von hier verschwinden.«
»Warte, warte«, sagte Rhapsody. Sie schloss die Augen vor Schmerzen und rieb sich mit der Hand über die Stirn. »Was bringt es, wegzulaufen? Außerdem bin ich bei Elynsynos in Sicherheit. Und bestimmt wird sie Meridion nichts antun.« Sie drehte sich zu der Drachin um, die nun ätherisch in der Luft schwebte und deren riesiges Gesicht einen Ausdruck stiller Verzweiflung zeigte. »Hast du nicht gesagt, dass ein Drache seine Nachkommenschaft über alles andere stellt?«
Ja, erwiderte Elynsynos ruhig. Aber sie tobt und denkt an nichts anderes als an Vernichtung, vermutlich an deine Vernichtung, Schöne.