»Nun, da du das Meer noch nicht gesehen hast, könnten wir damit anfangen, dass wir an Bord eines der großen Schiffe gehen und das weite Meer überqueren.«
Er malte ihr aus, wie die Masten und das Takelwerk aussahen und die Hängematten, die den Seeleuten als Schlafstatt dienten; er berichtete ihr von dem großen Hafen von Kesel Tai, wo Schiffseigner aus aller Welt anlegten, um Handel zu treiben und um von den Meeresmagiern zu lernen. Er erzählte von Port Fallon an der Küste seiner Heimat, wo ein über hundert Fuß hoher Leuchtturm aufragte und verirrten Seefahrern die Richtung wies. Und schließlich erwähnte er auch Lirin, den Hafen von Tallono, der künstlich angelegt worden war von einer Frau, die sich die Klugheit und Kraft der Drachen zu Eigen gemacht hatte.
Emily hörte gespannt zu und sog seine Worte in sich auf. Nur einmal unterbrach sie ihn kurz, um ihn auf den Hof ihrer Familie aufmerksam zu machen. Im Tor der Einfahrt brannten wie zur Einladung zwei Kutschenlaternen.
Es gab noch so vieles, was Gwydion zu erzählen gehabt hätte – zum Beispiel von dem Fluss, der an manchen Stellen so kalt und weit war, dass man morgens, wenn dichter Dunst über dem Wasser hing, nicht bis an andere Ufer blicken konnte. Dort, bei Gorllewinolo Lirin, lebte ein Großteil der Verwandtschaft seiner Mutter, bei denen sie, Emily, auch als Halbblut herzlich willkommen sein würde.
Er hätte ihr vom Orakel von Yarim und seiner verrückten Prophetin erzählt, von der großen Tempelstadt Sepulvarta, über die der Patriarch und seine Priester das Regiment führten. Gewiss hätte er auch nicht versäumt, ihr vom Großen Weißen Baum zu berichten, aber ehe er dazu kam, hatten sie schon das Dorf erreicht. Während sie mit immer langsamer werdenden Schritten auf die Festhalle zugingen, versprach er, ihr eines Tages all das zu zeigen, was er schon kannte und was auch sie zu sehen sich wünschte.
Sie kamen an der Stelle vorbei, wo er sie in ihrem Versteck entdeckt hatte, als sie sich plötzlich mit der Frage an ihn wandte: »Haben wir auch einen Familiennamen?«
Es freute Gwydion, dass sie daran dachte, in Zukunft seinen Namen zu tragen, aber dann geriet er in Verlegenheit, weil er nicht wusste, wie er ihr auf die Schnelle erklären sollte, was es mit dem Namen seiner Familie auf sich hatte. »Nun, wie soll ich’s sagen, die Sache ist ein bisschen verwickelt. Du musst verstehen, ich habe zwar...«
»Emmy, da bist du ja! Wo hast du verflixt noch mal gesteckt? Justin ist hier und hat dich überall gesucht. Wie einige andere übrigens auch.« Bens Stimme klang ärgerlich und erleichtert zugleich. Emily ignorierte die Frage und führte Gwydion zu ihrem Bruder. »Hallo, Ben. Hast du dich beim Tanzen amüsiert? Darf ich vorstellen? Das ist Sam; Sam, das ist mein Bruder Ben.«
Nach kurzem Zögern und kritischem Blick schüttelte Ben die von Gwydion ausgestreckte Hand, ehe er sich wieder an Emily wandte und sagte: »Wenn Vater davon Wind bekommt, gibt’s Ärger.«
»Wovon soll er Wind bekommen?«
»Dass du am Tanz nicht teilgenommen hast.«
»Ich habe sehr wohl getanzt und eine herrliche Zeit gehabt.«
Ben lief rot an. »Du hast kein einziges Mal getanzt, Emmy. Da drin sind etliche Jungs ziemlich sauer auf dich.«
Emily lachte auf. »Ich war zwar nicht da drin, habe aber, wie gesagt, sehr wohl getanzt. Du hast es selbst gesehen. Lass es gut sein, Ben, ich hatte einen wunderschönen Abend.«
»Emmy?«, rief eine sonore Stimme aus dem Hintergrund. Gwydion drehte sich um und sah einen jungen Mann herbeieilen, der um einiges älter war als er selbst. Er hatte dunkles Haar und war einen Kopf größer als Emily. Sie lief ihm entgegen, fiel ihm in die Arme und ließ sich von ihm durch die Luft wirbeln.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er überschwänglich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Hast du dich gut amüsiert und viel getanzt?«
»Und wie«, antwortete sie lächelnd. Sie machte Gwydion mit ihrem älteren Bruder Justin bekannt, und zusammen gingen sie auf das Gespann zu, mit dem Justin gekommen war, um sie abzuholen.
Während die Brüder das Geschirr der Pferde in Ordnung brachten, wandte sich Emily an Gwydion und sagte: »Vielen Dank, Sam. Wir sehen uns dann morgen wieder.«
»Punkt fünf. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Emily. Bis ich dich wieder sehe, werde ich nur an dich denken.«
Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und stieg eilig auf den Wagen. Gwydion fühlte einen schmerzhaften Stich im Herzen; dabei ahnte er selbst noch nicht, wie sehr sich bewahrheiten sollte, was er zuletzt zu ihr gesagt hatte.
»Ich liebe dich«, rief er ihr zu, als sich die Pferde ins Zeug legten. Sie hob die Hand ans Ohr zum Zeichen, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Er sah den Wagen davonrollen und Emily winken, bis sie im Dunkeln verschwunden war.
Am Morgen stand Gwydion noch vor Sonnenaufgang auf und bereitete sich mit den anderen Knechten auf die Feldarbeit vor. Weil er in der Hitze des Sommers ohne Hemd auskommen würde, wickelte er es zusammen mit seinem Wasserschlauch und dem Dolch in den Umhang und verstaute das Bündel unter der Pritsche, auf der er geschlafen hatte.
Er wollte sich gerade wieder aufrichten, als ihm drei kleine, dunkle Flecken auf dem Futterstoff des Umhangs auffielen. Er zog ihn wieder hervor und schaute näher hin. Es waren Blutflecken. Gwydion dachte, dass er sich womöglich am Rücken verletzt hatte, ohne es zu merken, doch da war keine Wunde zu entdecken. Er stopfte das Bündel wieder unter die Pritsche und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Als noch unerfahrener Helfer, der er war, gab man ihm leichtere, niedere Aufgaben, die es allerdings unausweichlich mit sich brachten, dass er seine Hose dreckig machte.
Als die anderen bei Sonnenaufgang eine Frühstückspause einlegten, ging er auf die Weide hinaus und suchte nach Blumen, die er Emily schenken konnte. Zwischen Büschen von Nymphenhaar entdeckte er wilde Akeleien und fand, dass sie genau das Richtige waren für ihr Geburtstagsbouquet. Danach ging er an den Brunnen und putzte mit einem Lappen den Dreck von der Hose, um sich sehen lassen zu können. Wenn er Emilys Vater um die Hand der Tochter anhalten würde, wollte er möglichst nicht nach Stall riechen. Erst viele Jahre später kam ihm der Gedanke, dass dem Mann dieser Geruch beileibe nicht fremd gewesen wäre.
In der Hoffnung, noch ein paar Frühstücksreste ergattern zu können, kehrte er zum Hof zurück. Es war schon so heiß, dass ihm ganz flau wurde, und als er sich der Veranda näherte, packte ihn ein so heftiger Schwindel, wie er ihn nie zuvor verspürt hatte.
Meridion hatte die Sequenz angehalten. Er warf einen prüfenden Blick auf seine Werkzeuge und machte sich dann mit äußerster Sorgfalt daran, das einzelne Bild aus dem feinen Streifen herauszulösen, was ihm zuerst nicht so recht gelingen wollte. Es schien, als wollte der Junge mit aller Macht daran festhalten – ein Gedanke, der Meridion unwillkürlich zum Schmunzeln brachte. Vorsichtig spulte er den ersten Streifen genau bis zu der Stelle vor, aus der er das Stück entfernt hatte, und setzte stattdessen ein anderes Bild ein. Als die Schnitte verklebt waren, schaute er wieder durch die Linse.
Gwydion tauchte auf dem Forstweg auf, mitten in der Bewegung eines Schrittes. Alles war genau so wie vordem an diesem frischen Morgen, alles bis auf seine Erinnerung.
Er hatte es eilig. Die Sonne stieg und leuchtete durch das Laub der Bäume, aus denen zahllose Vögel einander zuriefen. Ihn fröstelte, als ein lauer Wind über seine nackte Brust wehte.
Panik machte sich in ihm breit, und sein Herz pochte ungeduldig, als er kehrtmachte, denselben Weg hastig zurücklief und zu leugnen versuchte, dass er sich hier, an diesem Ort befand. Er wollte wieder in seine Angestammte Wirklichkeit, langte mit den Händen danach – natürlich vergebens.
Die Kehle schnürte sich ihm zusammen bei den Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen:
Halluzinierte er? War er wahnsinnig geworden? Sich vorzustellen, dass nicht wirklich war, was er hier erlebte, war weniger schlimm als die Ahnung, dass sich alles Erinnerte tatsächlich so zugetragen hatte und nicht etwa bloß eingebildet war. Etwas so Wundervolles wie die Begegnung mit Emily hätte er sich in seinen schönsten Träumen nicht ausmalen können.