Emily. Der Gedanke an sie machte sein Herz unendlich schwer. Wo war sie? Was war mit ihr geschehen? Er erinnerte sich, sie vor einer Trennung, und sei sie noch so kurz, gewarnt zu haben. Der verstörte Blick, mit dem sie darauf reagiert hatte, ließ ihn auch jetzt wieder erschauern. Hatte sie ihn und die Dringlichkeit seiner Warnung verstanden? Hatte sie überlebt?
Er tastete nach seinen Sachen. Wasserschlauch, Dolch, Hemd und Umhang fehlten. Mit Schrecken fiel ihm ein, dass sein Bündel unter der Pritsche lag, und ihm wurde erst jetzt klar, was es mit den Blutflecken auf sich haben mochte. Emily und er hatten sich auf diesem Umhang geliebt, und das Blut war wohl von ihr, ein Zeichen ihrer Jungfräulichkeit, verloren im Vollzug dessen, was ihm wie eine Hochzeit vorgekommen war.
Verzweifelt durchsuchte er seine Taschen und fand immerhin den Beutel, von seinen Habseligkeiten der einzige Teil, den er nicht im Schuppen zurückgelassen hatte.
Mit zitternden Fingern zog er die Kordel auseinander und öffnete den Beutel. Ein Lächeln streifte seine Mundwinkel, als er einen winzigen Gegenstand darin erfühlte. Behutsam holte er ihn hervor: den Knopf, den sie ihm in der Nacht zuvor geschenkt hatte und der Beweis dafür, dass seine Erinnerungen nicht halluziniert waren.
Tiefe Traurigkeit überkam ihn. Er dachte an den Umhang und seine übrigen Sachen, an den Schuppen, den Bauernhof, die zu Asche verbrannt und im Meer auf der anderen Seite der Welt, wo die Insel begraben lag, für immer verloren gegangen waren. Der Gedanke, dass auch ihre Asche im Ozean trieb, war ihm unerträglich. Er spürte, dass er dem Wahnsinn damit schließlich doch sehr nahe kam. Ach, Emily hatte bestimmt überlebt und die Anführer der cymrischen Flüchtlinge aufgesucht, deren Namen er ihr auf dem Hügel über den Feldern genannt hatte. Sie war bestimmt an Bord eines der großen Schiffe gegangen. Ihm wurde wieder etwas wohler ums Herz bei dem Gedanken, dass ihr so immerhin vergönnt gewesen war, übers Meer zu fahren, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte. All die anderen schrecklichen Möglichkeiten – dass sie dem Krieg zum Opfer gefallen oder vor dem Aufbruch der Cymrer gestorben war, dass sie eines jener Schiffe gewählt hatte, die mit Mann und Maus untergegangen waren, dass sie angekommen war, aber nicht mehr lange gelebt hatte – all diese schrecklichen Gedanken verdrängte er an den Rand seiner Erinnerungen und nahm sich vor, nicht mehr daran zu rühren. Es galt jetzt für ihn, nach Hause zurückzukehren und mit seinem Vater zu reden. Der wüsste Rat und könnte ihm helfen, Emily ausfindig zu machen.
Gwydion drehte sich um und machte sich auf den Weg. Der Tag hatte seinen Glanz verloren. Dunkel drohende Wolken zogen auf.
Kaum hatte er fünf Schritte getan, überwältigte ihn der Schmerz über seinen Verlust so sehr, dass er zu Boden stürzte. Wie am Vortag lag er bäuchlings auf der Straße, und es entfuhr ihm ein grauenvoller Schrei, der alles Wild im weiten Umkreis vergrämte. Dann hob er den Kopf über den Straßenstaub und weinte.
Am Morgen ihres Geburtstags nahm Emily das Angebot, von ihren tagtäglichen Pflichten absehen zu dürfen, dankbar an und blieb bis gut nach Sonnenaufgang im Bett. Sie träumte tief und intensiv und befand sich gerade inmitten einer besonders ergreifenden Traumszene, als sie einen schrillen, herzzerreißenden Schrei hörte – oder besser: fühlte.
Neiiiiiiiiiiin!
Sie schreckte auf, fuhr jählings in die Höhe und begann zu zittern. Sonnenlicht flutete durch die Vorhänge, die Vögel sangen. Ein wunderschöner Tag war angebrochen. Emily fuhr mit den Händen über die Arme, um das Gefühl der Angst abzustreifen, das sich wie frostiger Reif auf sie gelegt hatte. Aber dann erinnerte sie sich an Sam und die vergangene Nacht, und der Schrecken war vergessen. Sie sprang aus dem Bett, trällerte und tanzte in ihrem weißen Nachthemd durch die Kammer und rechnete sich aus, wie lange sie noch warten musste, bis sie ihn wieder sehen würde.
Der Tag zog sich hin. Um sich zu beschäftigen, half Emily der Mutter bei der Zubereitung des Abendessens. Von Sam und sich berichtete sie nur, was sie mitzuteilen bereit war. Je näher der Abend rückte, desto übermütiger wurde sie, bis ihr Vater meinte, dass man mit ihr und ihrem Strahlen bald die Zufahrt beleuchten könnte.
Zur verabredeten Zeit stand Emily in ihrer besten weißen Bluse und einem rosafarbenen Rock am Fenster und wartete. Zur Essenszeit war er immer noch nicht da. Das so aufwändig zubereitete Mahl war längst kalt geworden, als die Mutter sie schließlich sanft vom Fenster wegzog und an den Tisch führte. Es war ein trauriges Geburtstagsessen, bei dem kaum ein Wort gesprochen wurde. Emilys Blick vereitelte jeden Versuch einer heiteren Unterhaltung.
Nach dem Essen machten ihr die Eltern und Brüder Geschenke, die sie lächelnd entgegennahm und für die sie sich betont dankbar zeigte, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Als es Nacht wurde, kehrte sie ans Fenster zurück, fest überzeugt davon, dass er doch noch kommen würde.
Es war schon weit nach Mitternacht, als der Vater sie beim Arm nahm und aufforderte, ins Bett zu gehen. Sie nickte bloß und machte sich auf den Weg nach oben. Auf der Treppe drehte sie sich um und vergaß angesichts der traurig dreinblickenden Eltern für einen Moment den eigenen Kummer. Sie wusste, wie sehr sie mitfühlten, und konnte nicht ertragen, dass sie ihretwegen litten. Sie setzte das hellste Lächeln auf, das ihr gelingen wollte, und sagte mit möglichst fester Stimme:
»Macht euch keine Sorgen. In der Lotterie gibt’s noch jede Menge anderer Jungen, in die ich mich verlieben kann.«
Die Eltern atmeten erleichtert auf, und der sorgenvolle Ausdruck verschwand von ihren Gesichtern.
»Recht so, mein Schatz«, sagte die Mutter. »Genau so ist es.«
Emily warf ihnen eine Kusshand zu und ging in ihre Kammer, wo sie ungehört ihren Gedanken zu Ende führte:
»Aber dazu wird es nicht kommen.«
Nach Jahren vergeblicher Suche traf Emily auf MacQuieth, einen jener Männer, die ihr Liebster damals genannt hatte. Es war Zufall, dass er ihr in einer riesig großen Stadt über den Weg lief, und weil er ein allseits hoch gerühmter Krieger war, sie dagegen aber eine völlig Unbekannte, musste sie all ihren Mut aufbringen, um ihn auf den Jungen hin anzusprechen. MacQuieth reagierte anfangs ziemlich barsch, doch als er das flehentliche Hoffen in ihren Augen sah, wurde er freundlicher.
»Tut mir Leid«, sagte er, und es dauerte ihn, wie gespannt das Mädchen seine Worte aufnahm. »Aber ich kenne niemanden, der auf deine Beschreibung passt oder den genannten Namen trägt.« Und der ansonsten so unerschütterliche Krieger war sichtlich betroffen, als er sie mit hängenden Schultern davonziehen und in der Anonymität der Menge verschwinden sah. MacQuieth war zwar kein Hellseher, ahnte aber dennoch, dass er einer Menschenseele nachblickte, die, von allem Lebensmut verlassen, in der Masse ihresgleichen ein schrecklich tristes Dasein fristete und nur noch die Tage bis zu ihrem Tode zählte.
Gwydion wartete so geduldig, wie er nur konnte, auf die Antwort der Seherin, konnte aber seine Sorge und Verzweiflung nicht verhehlen. Dass die Seherin seine Großmutter war, tröstete ihn nur wenig. Anwyn musterte sein Gesicht, und ihre blauen Augen, die in ihrer Farbe noch intensiver waren als die von Gwydion, verrieten schiere Neugier. Es drängte sie zu erfahren, was den Enkel so nachhaltig aus der Gemütsruhe gebracht hatte, die doch ein angeborenes Charaktermerkmal der ganzen Familie war. Ihre seherischen Fähigkeiten beschränkten sich zwar fast ausschließlich auf Vergangenes, doch reichte ihr Gespür für die Zukunft aus, um zu wissen, dass Gwydion, wie es sich als Spross dieser Familie gehörte, eines Tages ein mächtiger Mann sein würde, ja, dass er noch mehr Potential besaß als alle anderen Familienmitglieder und darum die Dynastie wieder an die Spitze des Landes zurückführen konnte. Umso wichtiger erschien es ihr, ihn unter Kontrolle zu halten.