»An deiner Stelle würde ich nicht so despektierlich reden, Herzchen. Er ist in letzter Zeit um einiges gefährlicher geworden und hat mittlerweile sehr viel mehr Ohren als früher.«
»Herrje, dabei sah er schon früher nicht besonders anziehend aus.« Rhapsody steckte die Pergamentrolle in ihren Tornister aus Ölhaut und sammelte die Gegenstände auf dem Tisch ein, bis nur noch eine verwelkte Schlüsselblume und ein Fetzen Pergament zurückblieben.
Dann steckte sie das verkorkte Tintenfässchen in die eingenähte Innentasche ihres Sacks, stülpte die sackleinene Schutzhülle über ihre Harfe und packte auch sie ein. Damit fertig, nahm sie wieder die Feder zur Hand und beschrieb den Fetzen Pergament, ganz langsam und sorgfältig diesmal.
»Übrigens, Barney, eigentlich hätte ich gern doch noch einen Löffel Suppe.«
Man war schon dabei, das Lager zu räumen, als Gammon den Außenposten jenseits des nordwestlichen Walls von Ostend erreichte. Am Tonfall, in dem Michael seine Kumpane und Kämpfer anherrschte, erkannte Gammon, dass der Zeitpunkt denkbar ungünstig war, ihm die schlechte Nachricht zu überbringen. Er konnte nur hoffen, dass Michael, launenhaft wie er in letzter Zeit war, seinen Auftrag an ihn vergessen hatte. Aber diese Hoffnung schwand schon mit dem ersten Blick, den Michael ihm zuwarf.
»Wo ist sie?«, wollte er wissen. Er stieß den Lakaien, den er soeben zusammengestaucht hatte, unwirsch beiseite und kam auf Gammon zu.
»Sie ist nicht mehr im Gewerbe, Sir.«
Michael sperrte die Augen weit auf, und Gammon sah darin seinen Kampf um Selbstbeherrschung toben. »Du hast sie wohl nicht auftreiben können, oder? Was soll ich davon halten?«
Nach kurzem Zögern antwortete Gammon: »Doch, ich habe sie gefunden, mein Herr. Aber sie hat sich geweigert mitzukommen.«
Michael blinzelte, und Gammon sah, wie sich die Augen seines Herrn verdüsterten, je ruhiger er nach außen hin wurde. »Geweigert? Sie hat sich geweigert?« »Ja, Sir.
Michael drehte sich um und richtete seinen Blick auf die Männer, die ihre Pferde aufzäumten und die Waffen zusammenpackten.
»Ich vermute, du hast mich und meinen Befehl nicht richtig verstanden, Gammon«, sagte er leise, als schwarzer, saurer Rauch von den gelöschten Lagerfeuern aufstieg und wie dreckige Wolle über dem Feld schwebte. »Du solltest die Metze nicht bitten, uns zu begleiten. Ich wollte, dass du sie herbringst.«
»Ja, mein Herr.«
»Dann geh zurück und tu, was ich dir gesagt habe. Himmel, sie reicht dir nicht einmal bis zur Schulter. Schleif sie an ihren hübschen Haaren herbei, wenn’s sein muss. Hast du gesehen, wie schön golden es ist, Gammon?«
»Ja, Sir.«
»An dieses Haar habe ich oft denken müssen. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt?«
»Ja, mein Herr.«
»Nein, das kannst du nicht«, entgegnete Michael mit kalter, gefühlloser Stimme. »Das kannst du nicht, weil der Sack zwischen deinen Beinen leer ist. Du hast sie doch nie gehabt, oder? Das würde einer wie du auch kaum überleben. Aber ich, Gammon, ich hatte sie, und es war unvergleichlich. Sie ist eine halbe Lirin, und Lirinfrauen schmecken besonders süß. Wusstest du das, Gammon? Ach, was soll ich sagen? Ihr Haar macht nur einen kleinen Teil ihrer Anziehung aus. Deine Vorstellungskraft ist viel zu dürftig, als dass du dir ausmalen könntest, wie liebreizend sie ist. Nun ja, falls du denn in meiner Gunst bleiben solltest, Gammon, will ich dir bei Gelegenheit eine Kostprobe von ihr gewähren, und sei es nur, dass du dein erbärmliches Leben wertschätzen lernst und dich in Zukunft besser vorsiehst. Verstehen wir uns? Was sagst du dazu, Gammon?«
Gammon kannte dieses Frage-Antwort-Spiel zur Genüge. »Ich werde sie sofort holen gehen, mein Herr.«
»Brav«, sagte Michael und wandte sich wieder ab.
Rhapsody hatte gerade zu Ende geschrieben und ließ die Tinte auf dem Pergament trocknen, als Gammon in den Federhut zurückkehrte. Das Gasthaus war inzwischen leer; nur Barney und Dee sahen mit Schrecken, wie er auf ihren Tisch zuging und breitbeinig davor stehen blieb. Wie zuvor schien Rhapsody ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und fuhr unbeirrt in ihrer Arbeit fort.
»Ich will, dass du jetzt mit mir kommst«, sagte Gammon.
»Heute nicht, tut mir Leid.«
»Es reicht«, knurrte Gammon. Er packte ihr goldenes Haar, das mit einer einfachen schwarzen Schleife zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und langte mit der anderen Hand nach seinem Kurzschwert.
Die Wirtsleute sahen ihn in der Mitte zusammenklappen, als Rhapsody ihm die Tischecke so wuchtig in den Unterleib rammte, dass er, rücklings an die Wand gedrückt, mit dem Gesicht auf der Tischplatte aufschlug und laut aufschrie vor Schmerzen. Blitzschnell trat Rhapsody ihm das Schwert aus der Hand, nahm es vom Boden auf und beugte sich weit über den Tisch, um ihm ins Ohr zu flüstern:
»Du bist ein ungehobelter Klotz. Geh und sag deinem Kommandanten, dass er gefälligst an sich selbst verrichten soll, was er mit mir zu tun gedachte. Verstanden?«
Gammon funkelte sie mit hasserfüllten Augen an, als sie ihm ihren Dolch an den Hals setzte und dann den Tisch abrückte, um ihn dahinter freizugeben.
Sie trieb ihn vor sich her zur Tür und sagte: »Noch eins. Ich werde selbst gleich gehen und diesen Ort verlassen. Du und deine Spießgesellen, die du sicherlich zusammentrommeln wirst, könnten also entweder hierher zurückkommen und die Wirtsleute belästigen oder mir nachzustellen versuchen. An eurer Stelle würde ich hier im Gasthaus keine Zeit verschwenden.« Sie warf sein Kurzschwert in den Dreck der Straße.
Gammon spuckte sie an, als er die Taverne zum zweiten Mal verließ.
»Ein wirklich ungehobelter Klotz«, wiederholte Rhapsody, an Barney und Dee gerichtet. Sie warf eine Hand voll Münzen auf den Tisch und nahm Dee zum Abschied in den Arm. »Ich gehe durch die Vordertür nach draußen. Bis zum Abend solltet ihr vielleicht lieber zusperren. Tut mir Leid, dass ich euch Schwierigkeiten gemacht habe.«
»Pass bloß auf dich auf«, sagte Dee und schluckte.
Rhapsody nahm ihren Umhang vom Haken beim Eingang, schulterte den Tornister und wandte sich der Tür zu. Bevor sie hinausging, steckte sie Barney das beschriebene Stück Pergament zu und schenkte ihm ein letztes Lächeln.
»Viel Glück, Barney«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Wenn du jemals einem Troubadour begegnest, bitte ihn, dieses Lied für dich zu spielen.«
Barney blickte auf den Fetzen in seiner Hand. Darauf waren fünf waagerechte Linien gezogen und ein paar Noten eingetragen. »Was soll das sein, Herzchen?«
»Dein Name«, antwortete sie und ging.
Dee ging an den Tisch, sammelte das Geld ein, räumte das Suppengeschirr und die Schreibfeder ab.
»Barney«, sagte er dann, »komm mal her und sieh dir das an.«
Auf dem Tisch lag eine Schlüsselblume, so frisch und duftend, als wäre sie gerade erst gepflückt worden.
Die Seitengassen von Ostend waren dunkel und kühl, eine angenehme Zuflucht vor der sengenden Sonne. Schweigend wanderten die beiden Männer über das Pflaster, unbemerkt von den Anliegern, die lärmend ihren Geschäften nachgingen. Dass einer wie Grunthor nicht zur Kenntnis genommen wurde, lag nicht zuletzt auch an der drückenden Hitze des Tages und den tiefen Schatten der Gassen. Für gewöhnlich brachte er allein mit seiner kolossalen Statur jedes Gespräch zum Stocken und allen Verkehr zum Erliegen, sobald er in eine Stadt kam, was jedoch selten der Fall war.
Der Bruder nahm die Bewegungen und Geräusche der Menge schon von weitem mit all seinen Sinnen wahr. Und sooft zu erwarten stand, dass eine größere Gruppe ihren Weg kreuzte, wichen die beiden aus, was zwar Zeit kostete, dafür aber ihre Chance erhöhte, unbemerkt zu bleiben.
Sie zogen nun durch einen verwaisten Bezirk, wo zwischen Dreck und Abfällen lediglich ein paar Zecher ausgestreckt danieder lagen und ihren Rausch ausschliefen. Die beiden eilten schnellen Schritts und ohne hinzusehen weiter.
Die nächste Seitengasse war, wie der Bruder spürte, leer; sie führte in den Südostteil der Stadt. In wenigen Schritten würden sie die Werft erreicht haben und in der Anonymität des Treibens dort verschwinden.