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»Wer von uns beiden hat denn hier die größere Macke?«, empörte sich Jo und stand auf. »Du regst dich doch schon auf, wenn deine Sachen nicht nach Farben geordnet sind und jedes Accessoire in seinem je eigenen Beutelchen verstaut ist. Verrate mir doch mal, wo ich meinen Kram unterbringen könnte?«

Rhapsody sah sich um. »Hattest du nicht eine Kommode?«

Joes Miene heiterte auf. »Das Spiel wird also doch fortgesetzt«, sagte sie und nahm Kurs auf einen großen Hügel, behängt mit Kleidungsstücken in verschiedenen Stadien der Verschmutzung. Mit schwungvoller Bewegung warf sie die Kleider auf den Boden und ließ eine Kommode darunter zum Vorschein treten. Darauf stellte sie nun vorsichtig mehrere Kerzen ab.

Rhapsody lupfte den Saum ihres Nachthemdes und bahnte sich einen Weg durch Jos angesammelte Schätze, bis sie die andere Seite der Kammer erreicht hatte, wo sie ein wenig aufzuräumen anfing, dabei aber so tat, als wollte sie nur ein paar Kerzen auf den großen Koffer stellen, der dort stand.

»Vielleicht ist das doch keine so gute Idee, Jo. Womöglich bricht uns hier noch ein Feuer aus.«

»Keine Sorge«, sagte Jo, die in der Kommode herumwühlte. »Ich werfe alles Zeugs in der Mitte auf zwei Haufen zusammen. Das müsste hinhauen.«

»Ja, und dann alles vorsätzlich in Brand stecken«, sagte Rhapsody. Sie berührte eine Kerze nach der anderen und konzentrierte sich auf das Feuer in ihrem Inneren. Die Dochte fingen an zu glühen und flammten plötzlich auf.

»Holla!«, rief Jo. »Alle Achtung. Wo ist dein Feuerstein? Und ich kann meine Zunderdose nirgends finden.«

Rhapsody kehrte auf die andere Seite der Kammer zurück, legte dem Mädchen, das um einiges größer war als sie, den Arm über die Schulter und berührte die auf dem Tisch stehenden Kerzen. Auch sie fingen an zu brennen. Jo folgte dem Schauspiel mit staunendem Blick und setzte sich dann wieder aufs Bett.

Die brennenden Kerzen brachten Glanz in die Kammer und wärmten die klamme Luft merklich auf. Das Durcheinander verschwand im Schatten, worauf plötzlich alles viel freundlicher und behaglicher aussah. Rhapsody hockte sich mit angewinkelten Knien auf den Stuhl und lächelte Jo zu.

»Na, wie gefällt dir das so?«, fragte sie und musterte die im Flammenschein funkelnden Augen des Mädchens.

Jo ließ sich mit der Antwort Zeit und schaute schweigend in die Runde. »Wundervoll«, antwortete sie schließlich. Das weiche Licht milderte ihre scharfen Züge. »Hell bei Nacht. Das kenne ich sonst nur von Quimsley, wo die Reichen von Navarne wohnen und in jeder Straße Laternen leuchten. Ich habe einmal dort in einer Ecke zu schlafen versucht, aber zuerst machen die Laternenanzünder ihre Runde, danach die Wachsoldaten, und wenn sie dich aufgreifen, geht’s dir dreckig und du sehnst dich wieder danach, in einer dunklen, aber dafür friedlicheren Straße zu schlafen. Wie dem auch sei, es sieht hier in der Kammer jetzt wirklich sehr viel schöner aus.«

»Meine Mutter hat immer gesagt: Im Kerzenlicht wird die einfachste Hütte zum Palast«, sagte Rhapsody gedankenvoll. »Wie Recht sie damit hatte.«

»Ich wette, an eine solche Unterkunft, wie wir sie haben, hat sie damals bestimmt nicht gedacht«, sagte Jo und streckte sich, die Hände hinterm Kopf verschränkt, auf dem Bett aus. »Wahrscheinlich träfe sie der Schlag, wenn sie sehen würde, wie du wohnst.«

»Von wegen.« Rhapsody schmunzelte. »So leicht hat meine Mutter nichts umgehauen. Ihr ist viel Hässliches zugemutet worden, wovon sie aber nichts angenommen hat. Es war, als hätten in ihren Augen Kerzen gebrannt, die jedem Wetter standhalten konnten, ohne je ausgeblasen zu werden.«

Jo wurde still. Nach einer Weile zog sie einen Dolch unter dem Kissen hervor, setzte die Klingenspitze auf die Zeigefingerkuppe und balancierte die Waffe auf der ausgestreckten Hand. »Du hast deine Mutter bestimmt sehr lieb gehabt.«

Rhapsody schaute in die hell leuchtenden Flammen der Kerzen auf dem Tisch. »Ja.«

»Und sie hat dich natürlich ebenso lieb gehabt, nicht wahr? Welch ein Leben ... Du hast dich wahrhaftig nicht zu beklagen brauchen.«

Der bittere Tonfall in Jos Stimme war nicht zu überhören, aber Rhapsody nahm keinen Anstoß daran.

»So ist es, Jo. Und trotzdem habe ich das alles aufgegeben.«

»Ach ja? Wie dumm von dir.«

»Ja, das war es in der Tat«, bekannte Rhapsody.

»Und was war der Grund dafür?«

Unwillkürlich fuhr Rhapsody mit der Hand an das Medaillon, das an der Halskette hing, und sagte, den Blick auf die Kerzen gerichtet, was sie bislang für sich behalten und niemandem anvertraut hatte.

»Eines Jungen wegen.«

»Oh.« Jo versuchte den Balanceakt jetzt mit der anderen Hand. »Wär’s dein Erster?«

»Ja, und mein Letzter. Seitdem habe ich keinen anderen so geliebt wie ihn.«

Das Mädchen ließ den Dolch durch die Luft wirbeln. »Bist du mit ihm durchgebrannt?«

Rhapsody schlang die Arme um die Knie. »Nein. Ich bin losgezogen, ihn zu suchen. Hab ihn aber nirgends finden können. Er hat bekommen, was er von mir wollte, und sich anschließend aus dem Staub gemacht.«

»Und warum bist du nicht einfach zurück nach Hause gegangen?«

»Dieselbe Frage stelle ich mir tagtäglich.«

»Und jetzt kannst du nicht mehr zurück?«

»Nein, unmöglich.«

Jo lauschte gespannt, doch die Schwester sagte nichts. In Gedanken versunken, starrte Rhapsody unverwandt ins Kerzenlicht. Jo richtete sich schließlich auf und kratzte mit der Dolchklinge über den Stiefelrand.

»Und wie ist das so? Eine Mutter zu haben?«

»Hmmm? Oh, herrlich. In meinem Fall. Ich weiß allerdings auch von anderen, dass sie ihre Mütter gehasst haben, und vermute, dass sie genau aus diesem Grund früh geheiratet haben, nur um möglichst schnell von zu Hause wegzukommen. Meine Mutter aber war eine ganz außergewöhnliche Person. Was wohl nicht zuletzt daher rührt, dass sie die einzige ihrer Art im ganzen Dorf war.«

»Ihrer Art?«

»Ja, sie war eine Lirin und hat als Einzige die Zerstörung ihres Langhauses überlebt. Als sie meinen Vater zum Mann nahm, musste sie sich von den Leuten etliche Gemeinheiten gefallen lassen, was sie aber ertragen hat, vornehm und mit Würde. Ich habe sie nie ein unfreundliches Wort über irgendeinen Nachbarn sagen hören, auch nicht über diejenigen, die ihr selbst gegenüber unfreundlich waren. Und wenn meinen Brüdern böse mitgespielt wurde, hat sie immer nur schlichtend eingegriffen. Als ich dann endlich zur Welt kam – ich war das sechste Kind und einzige Mädchen –, wurde sie von allen im Dorf geliebt.«

»Sie scheint ja wirklich was Besonderes gewesen zu sein.« Jos Stimme klang zurückhaltend.

»Für mich auf jeden Fall. In meinen schönsten Erinnerungen sitze ich mit ihr nach dem Abendessen vorm Kamin; sie bürstet mir das Haar, singt lirinsche Lieder und erzählt mir die alten Geschichten, damit sie nicht in Vergessenheit geraten und ich sie später einmal weitererzähle. Wir konnten über alles reden. Jedes Mal, wenn ich vor einem Feuer sitze, denke ich an sie, und das tröstet mich dann irgendwie. Sie ist, was ich am allermeisten vermisse.« Rhapsody wurde still, und es war, als hätte man das Flackern der Kerzen hören können.

Jo starrte auf die bewegten Schatten unter der Decke. »Immerhin hattest du eine Mutter, die dich wollte. Es hätte schlimmer kommen können.«

Aus ihren Träumen zurückgekehrt, sagte Rhapsody: »Erzähl mir von deiner Mutter, Jo.«

»Da gibt es nichts zu erzählen. Ich habe sie nie kennen gelernt.« Jo ließ den Dolch auf den Knöcheln der Hand hin und her wippen.

»Wie kannst du dann wissen, dass sie dich nicht wollte?«

Der Dolch fiel zu Boden; sie hob ihn auf. »Soll das eine Fangfrage sein? Wenn sie mich gewollt und lieb gehabt hätte, würde ich doch wohl auch wie du ein paar Tränen ihretwegen verdrücken und nette Dinge über sie sagen können, oder? Ich würde mich doch wenigstens daran erinnern können, wie sie ausgesehen hat, oder?« Verärgert und so, als ob sie ein Phantombild abzustechen versuchte, steckte sie den Dolch unter das Kissen zurück und verschränkte daraufhin wieder die Hände hinterm Kopf. Rhapsody stand auf, kam zu ihr ans Bett und setzte sich zu ihren Füßen auf die Kante. »Wer weiß?«, sagte sie und versuchte Jos Blick einzufangen. »Du hast keine Ahnung davon, warum ihr getrennt worden seid. Vielleicht hatte sie keine andere Wahl.«